Die Flüchtlinge, das Mobmonster, Stacheldraht und Soldaten

Die Bilder

d'Lëtzebuerger Land du 18.03.2016

Wollen Sie die Bilder sehen, diese Bilder? Das ist derzeit eine häufig gestellte Frage in den Talgdrüsenshows. Es ist natürlich eine rhetorische Frage: Man geht davon aus, dass das zivilisierte Gegenüber diese Bilder, die vermutlich schrecklich sind oder sein werden, nicht sehen will. Man unterstellt dem Gegenüber einen gewissen Grad an Zivilisiertheit oder zumindest Heuchelei, eine ja nicht unwichtige Begleiterscheinung derselben. Oder einfach nur Menschlichkeit, ein Minimum an Empathie wird damit assoziiert.

Die meisten Menschen wollen die Bilder nicht sehen, die Zeitzeugin klickt auch lieber weiter auf ein süßes Fischmonster aus dem Indischen Ozean, das eine Freundin postet. Oder auf ein bisschen Tratsch, ein paar Scherzlein, damit einer seichter ums Herz wird. Wer will denn Kinder, die bis zu den Knien im Schlamm stecken, sehen? Oder Menschen, die sich durch Flüsse kämpfen, eben war es das Meer. Es geht grauenhaft zu, wie in griechischen Sagen, kaum ist ein Monster überwunden, taucht das nächste auf, das übernächste, eine unwirtliche Insel, eine Schlammwüste, zähnefletschende Volkstribun_innen, Minen vielleicht auch noch. Ist das nicht Merkelland am Horizont, da drüben? Zäune und Gitter schnellen hoch, Tore schnappen zu, Mauern und Soldaten bauen sich auf, Dornenhecken und Stacheldrähte wuchern den Ankömmlingen entgegen, Go home!, schreien sie. Irgendwann vielleicht ein Bus nach Irgendwo, draußen wartet das nächste Monster, das Mobmonster, das sich perfide das Volk nennt. Es bäumt sich auf und schäumt, vor Wut.

Kameras sind dabei, Journalist_innen mischen sich unter den Treck, Flüchtlinge filmen ihren eigenen Exodus, wir fliehen mit ihnen von Aleppo bis Dortmund. Eine Familie wird uns vorgestellt, die gerade in ein Boot steigt, das Boot entfernt sich in die Nacht. Wir steigen ein in Boote, in Schicksale, wir sorgen uns um einen Minderjährigen, der nicht weiß, ob seine Eltern kommen dürfen, und um einen Ehemann, der lange nichts von seiner Frau und seinen Kindern gehört hat. Wir beobachten Tunnelmenschen und Bootmenschen, junge Männer, die unter Drähten hindurch robben und durch den Schlamm und von denen wir ahnen, dass sie nicht willkommen sind, hier nicht, dort nicht.

Wer will all das noch sehen, von dem wir wissen, dass wir es noch sehr, sehr lange sehen werden? Wer kann Menschen noch zuschauen, wie sie Leib und Leben dabei riskieren, natürliche und vor allem unnatürliche Grenzen zu überwinden, in einem Hindernislauf, bei dem die Hürden laufend verschärft werden, bei dem laufend Fallen aufgestellt werden, hin zu einer Fata Morgana?

Der lange, traurige Flüchtlingsfilm ist ja längst nicht mehr Fernsehen. Er ist längst nah, er trifft und betrifft uns. Die Bilder, die Filme, die gehören ja ab jetzt dazu. Zu uns.

Mit Bildern hat ja alles angefangen, mit Bildern die zu den großen, naturalistischen Gemälden der Jetzt-Zeit geworden sind. Wie schnell werden wir sie im Bilderbuch wiederfinden, mit den gerade genehmen Deutungen? Bilder aus einer anderen Epoche, hätten wir noch vor kurzem geglaubt. Menschenzüge unterwegs durch Getreidefelder und Grenzdörfer, Ausgedörrte mit sonnengegerbten Gesichtern, Dörflerinnen mit Brotkörben. Das Bild des angeschwemmten toten Kindes brannte sich uns ein, es entfaltete eine erstaunliche Kraft in einer so bildersatten und bildermüden Welt. Es wurde zum Logo, zum Sinnbild des Sinnlosen. Mit den Aufnahmen vom Budapester Bahnhof, dem Elendslager vom Keleti, hat es dann endgültig klick gemacht, die Macht der Bilder hatte die Mächtigste erreicht.

Angela Merkel ließ sich von Bildern berühren. Sie erkannte die Menschen in den Bildern und holte sie aus den Bildern. Der neue Politiker-Sprech geht den entgegengesetzten Weg. Die Bilder sind furchtbar, sagt zum Beispiel der österreichische Außenminister. Man muss alles machen, um sie zu verhindern. Rechte reden vom Schießen auf Flüchtlinge, geraten unter Beschuss und flüchten in unschöne Bilder, die es zu verhindern gilt.

Unschöne Bilder. Ein Leitmotiv derzeit. Eins, das uns auf etwas vorbereiten soll.

Langsam, beharrlich, in einer Sprache, die Menschen bannt und verbannt.

Michèle Thoma
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