War das ein Thema?

Jude geht gar nicht

d'Lëtzebuerger Land vom 27.02.2015

Eine Tischgesellschaft im deutschsprachigen Ausland. Menschen, die sich selber vermutlich aufgeklärt nennen würden, als auf dem neuesten Stand aller möglicher gesellschaftlicher Diskurse. Eine unter ihnen fragt eine junge Frau, ob sie Jüdin sei. Der Verlauf des Gesprächs hat das nahegelegt, zum Verständnis erscheint es ihr wichtig, das zu wissen. Die allgemeine Reaktion am Tisch auf diese Frage ist, für die Fragestellerin zumindest, erstaunlich: Tritt gegen das Schienbein, gerollte Augen, Ins-Ohr-Gezischel. Die junge Frau bejaht die Frage aber, die Fragestellerin stellt noch ein paar Fragen, die sie diesbezüglich interessieren. Nachher wird die Fragestellerin unter vier Augen scharf zurecht gewiesen: So etwas kann man nicht fragen. Man kann nicht fragen, ob jemand Jüdin ist. No-go. „Jude geht gar nicht.“

Warum?, antwortet die Fragestellerin patzig. Warum darf ich nicht fragen, ob jemand Jude ist? Ich frage ja auch, ob jemand Russe oder Franzose ist. Für mich ist das ein vollkommen neutraler Begriff. Und übrigens, sagt sie, ist das nicht mein Problem. Ich habe damit überhaupt nichts zu tun. Ich komme aus Luxemburg.

Ich komme aus Luxemburg. Ich bin unbefangen. Ich darf Fragen stellen, die mich interessieren, ohne mich zu winden und mich zu fragen, ob meine Aussage dem gerade politisch korrekten Sprech entspricht. Und was sollte in diesem Fall überhaupt politisch inkorrekt sein? Warum sollte ich Juden nicht Juden nennen? Ich nenne Luxemburgerinnen auch Luxemburgerinnen. Ihr redet gschamig von jüdischen Menschen, warum muss ich betonen, dass Juden Menschen sind? Das erscheint mir ziemlich selbstverständlich. Mit euren beinahe komisch anmutenden Verrenkungen, eurem Herumgedruckse habe ich nichts zu tun.

Das heißt nicht, dass ich respektlos bin oder finde, dass jetzt aber genug sei mit all dem. Mit salbungsvollen Reden, Politikern in Kippas. Lustig über heuchlerische Auswüchse der Gedenkindustrie macht sich der jüdische Publizist Henryk M. Broder. Ich darf das, ich bin Jude, heißt ein Buch des Standup-Comedians Oliver Polak. Dazu fühle ich mich nicht berufen. Ich bin keine Jüdin. Ich bin aber Luxemburgerin.

Und deshalb habe ich es nicht nötig, mich Jüdinnen und Juden auf eine so verschämt- devote Art zu nähern. Ich bin nicht belastet. Ich komme aus einem Land, das sich die Hände in kollektiver Unschuld wäscht. Ich komme, bitte herhören, aus einem kleinen Land mit einem großen Widerstand. David und Goliath, Asterix, mindestens. Beinahe alle waren im Widerstand, das ist legendär. Zumindest mental. Mitläufer waren die totalen Ausnahmen, von Mittätern ganz zu schweigen. Die wurden allerdings konsequent zur Rechenschaft gezogen. Antisemitismus war bei uns überhaupt kein Thema gewesen. So wenig Thema, dass mir eigentlich, hm, jetzt wo ihr mich so fragt, wo ich mich so frage, ganz wenig zu dem Thema einfällt. Weil es keins war, wahrscheinlich.

Unsere Geschichte während der Besatzungszeit? Ardennen, Patton, Resistenz ..., habe gerade einen historischen Blackout, fragt mich doch was über den Peloponnesischen Krieg. Vive-Geschrei unter dem Balkon der Großherzogin, daran kann ich mich erinnern. Wonneschauer auf den Schultern des Vaters. Aber da war ja alles lange vorbei, alles gut, wir die Guten, die Gewonnenen. Sonntags nach dem Essen gab es Ligne de Maginot, immer Ligne de Maginot, den Lieblingsnachtisch meines Vaters. Während ich von meinem Lieblings-Beatle träumte. Die jüdische Bevölkerung nach dem Krieg? Die Überlebenden sind sicher wieder zurückgekommen und alle haben sich gefreut. Ganz sicher.

Ja, einmal wurde ein Film zensiert, nicht nur wegen dem Sex. Ein Film, in dem Henry Miller auf Luxemburg-Trip war. Ein judenfreies Café war da drin. Wieso war Henry Miller auch ausgerechnet in dem gelandet, unfair. Juden im Stroh, mit Rennen und Brennen, das habe ich auch mal gehört. Aber das war nur Klamauk, ein Volkslied, beinah ein Kinderlied. Mittelalterlich, naiv. Hat man aber noch vor einem Jahr gesungen.

Dass das bis vor kurzem niemand aufgefallen ist, heißt aber eben nur, dass wir so ein unbefangenes Verhältnis zu unserer Vergangenheit haben.

Michèle Thoma
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