Jedesmal, wenn die Regierung unverhofft viel Geld einnimmt, erinnert sie sich an den Krisenfonds von 1938. So auch nun wieder

Fonds ohne Krise

d'Lëtzebuerger Land vom 25.10.2019

„Wenn ich sage, dass die Regierung mit dem Haushalt für 2020 Verantwortung für die Zukunft übernimmt, dann sieht man das auch daran, dass mit diesem Haushalt der frühere Krisenfonds in einen Haushaltsausgleichsfonds verwandelt wird“, hatte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) vergangene Woche angekündigt, als er den Haushaltsentwurf für das kommende Jahr im Parlament hinterlegte.

Mit dieser Gesetzesänderung will die Regierung Mehreinnahmen, wie sie gerade durch die beschleunigte Abrechnung der Körperschaftsteuer entstanden sind, horten, ohne sie, wie in der Vergangenheit, in einen zweckgebundenen Investitionsfonds zu stecken oder in den Intergenerationellen Staatsfonds, wo sie langfristig blockiert wären. „Auf diesen Haushaltsausgleichsfonds kann jedes Jahr flexibler zurückgegriffen werden, wie es gerade nötig ist“, freute sich der Minister. Aber dazu muss das Gesetz über den Krisenfonds zum ersten Mal seit 80 Jahren geändert werden.

Der Krisenfonds war 1938 etwas überstürzt geschaffen worden, als der Staat unerwartet eine Menge Geld von der Hadir erhalten hatte und nicht richtig wusste, wohin damit. Im Begleitschreiben zum Gesetzentwurf hieß es: „Ce montant (10 MF) sera prélevé sur les sommes que l’un des concessionnaires de nos mines domaniales versera à l’État à titre de rachat anticipatif de rentes minières.“

Das Gesetz bestimmt in vier Artikeln knapp: „Es wird ein Spezialfonds geschaffen unter der Benennung ‚Krisenfonds‘. Der Fonds hat ausschließlich zum Zweck, eine Reserve zu schaffen zur Bestreitung der außerordentlichen Ausgaben, die eine Wirtschaftskrise dem Staate auferlegen kann. Der Fonds wird durch Zuwendungen gespeist, deren Betrag jedes Jahr durch das Büdgetgesetz festgesetzt wird. Zwecks Ausführung der vorhergehenden Bestimmung wird dem Ausgaben­budget für 1938 ein besonderer ArtikeI beigefügt mit folgendem Wortlaut: ‚Art. 4285. – Schaffung und Speisung des Krisenfonds ...10 000 000 Fr.‘ Die Regierung ist mit der Anlegung der Gelder des Krisenfonds beauftragt. Die Inanspruchnahme des Krisenfonds kann nur durch Spezialgesetz erfolgen.“

Das Geld der Hadir kam nicht ungelegen. Denn fast hatte man geglaubt, die Weltwirtschaftskrise hinter sich zu haben, da fiel die Erzförderung zwischen 1937 und 1938 von 7,8 Millionen Tonnen auf 5,1 Millionen Tonnen, die Stahlproduktion von 2,5 Millionen Tonnen auf 1,4 Millionen Tonnen. Bei der Debatte im Parlament über den Krisenfonds waren sich die Abgeordneten einig, dass der Krisenfonds in einer Wirtschaftskrise eine soziale Rolle spielen sollte, auch wenn er für die Sozialisten Arbeiter und Arbeitslose, für die Liberalen auch den Mittelstand unterstützen sollte und die Rechte einen Agrarkrisenfonds verlangte.

Nachdem Premier Joseph Bech 1937 über sein Maulkorbgesetz gestürzt war, waren die Sozialisten in die Regierung gekommen und hatten zusammen mit der Rechtspartei und den Liberalen fast eine Regierung der nationalen Einheit gebildet. So verabschiedete das Parlament vier Monate nach dem „Anschluss“ Österreichs die Loi du 27 juillet 1938, portant création d‘un fonds de ­réserve pour la crise, zwei Monate später gefolgt von einem Vollmachtengesetz für die Regierung.

Damit das Vermögen des Krisenfonds nicht der Inflation oder der Spekulation zum Opfer falle, hatte Staatsminister Pierre Dupong (RP) am 22. Juli 1937 den Parlamentariern geraten: „Si vous achetez de l’or et que vous renoncez aux intérêts, vous ne serez pas exposé à une perte.“

Am 12. Dezember 1939 gab die Regierung erstmals ein Projet de loi autorisant à disposer du fonds de ­crise auf den Instanzenweg, weil „la guerre existant entre deux grandes puissances voisines du Grand-Duché [a] eu des répercussions très graves sur la vie économique du pays“, wie es im Motivenbericht hieß. Der einzige Artikel besagte: „Le Gouvernement est autorisé à disposer du fonds de crise créé par la loi du 27 juillet 1938.“ Am 26. Januar 1940 winkte der Staatsrat den Entwurf durch, der am 8. Februar im Parlament deponiert wurde. Artikel 88ter des am 14. März gestimmten Haushaltsgesetzes für 1940 verbuchte schon den „Prélèvement sur le fonds de crise“ in Höhe der gesamten zehn Millionen Franken, das Sondergesetz wurde dagegen nicht mehr vor dem deutschen Überfall verabschiedet.

Am 15. März 1950 interpellierte der sozialistische Gewerkschafter und Abgeordnete Antoine Krier die Regierung und wollte wissen, „wie der Fonds aufgebraucht wurde. So weit ich mich erinnern kann, war der Kredit im Jahr 1938 nicht angerührt worden“. Premierminister Pierre Dupong antwortete ihm: „Quant à la question du fonds de crise, j’ai demandé à l’administration ce qu’il en est. L’argent a été utilisé par la Trésorerie.” Später hieß es dagegen Jahr für Jahr im Staatshaushalt: „Le fonds de crise avait été alimenté en 1938 d’un montant de 9 797 534,20 francs représentant la contre-valeur de lingots d’or acquis en vue du placement de cette somme. Cet avoir a été confisqué par l’occupant.“

1952 kam wieder unerwartet Geld: Weil der Wiederaufbauboom nach dem Krieg vielen Firmen außerordentliche Profite ermöglichte, die sie an ihre Aktionäre ausschütteten, erhöhten Regierung und Parlament durch ein Gesetz vom 27. November 1952 die Kapitalertragssteuer. Die auf 137,5 Millionen Franken geschätzten Einnahmen wurden, so Artikel drei, „attribuées au fonds de crise institué par la loi du 27 juillet 1938 portant création d’un fonds de réserve pour la crise.” ­Pierre Dupong meinte am 11. November 1952: „Si, grâce au fonds de crise, nous rentrons en possession de fonds qui nous permettent de rembourser à la Caisse d’épargne les sommes dues et de nous délivrer de cette charge d’intérêts, la Caisse d’épargne sera en mesure de nous avancer de nouveau des fonds en temps de crise.“

Danach wurde der Krisenfonds mit Ausnahme von 1954 und 1959 tatasächlich aufgestockt – bis 1974. Dann war Schluss: Seit 45 Jahren gab keine Regierung mehr, gleich welcher Koalition, einen Franken oder Euro für den Fonds aus. Die unverschämt hohen Einnahmen der Finanzbranche und die sehr liberalen Wirtschaftsexperten hatten sie überzeugt, dass Wirtschaftskrisen der Vergangenheit angehörten.

Nach dem Krieg wurden nur einmal dem Krisenfonds Mittel entnommen. CSV-Finanzminister Pierre Werrner hatte 1969 einen Gesetzentwurf eingebracht, um eine staatliche Entwicklungsbank zur wirtschaftlichen Diversifizierung zu gründen und sie ohne Krise aus dem Krisenfonds zu speisen. Als die DP/LSAP-Koalition schließlich in der Wirtschaftskrise 1977 die Nationale Kredit- und Investitionsgesellschaft SNCI schuf, gestattete sie mit Artikel 11 (2) des Gesetzes vom 2. August 1977 „une dotation spéciale de cinq cents mil­lions de francs que le Gouvernement est autorisé à prélever sur le fonds de crise institué par la loi du 27 juillet 1938“.

In ihrer Begründung hatte die Regierung geschrieben: „À l’heure actuelle une opération pareille est d’autant plus justifiée qu’il eu entre­temps l’instauration d’un fonds de chômage doté de ressources propres suffisantes et régulières et que par ailleurs la valeur marchande de la partie placée en or du fonds de crise a plus que triplé depuis 1969 pour dépasser actuellement les mil­liards. (Signalons encore qu’actuellement la partie ‚liquide‘ du fonds de crise se chiffre à 597 mio F). Ce prélèvement sur le fonds de crise constituera en l’espèce une opération de transformation de fonds bloqués en moyens actifs mis au service de la modernisation de l‘économie.“

Berichterstatter Willy Dondelinger (LSAP) erklärte dazu am 13. Juli 1977, dass der Krisenfonds „theo­retisch 1,376 Milliarden beträgt, er effektiv aber höher ist. Am 21. Mai 1977 sahen wir, dass er bei der Sparkasse 601 025 062 Franken stehen hat. Das, was an die Gemeinden ausgeliehen wurde, beträgt 102 323 139 Franken und in Gold sind 672 651 799 Franken angelegt. Der Goldpreis ist zum Preis von damals, als er noch 35 Dollar die Unze betrug, hier festgehalten. Tatsächlich wissen wir alle, dass der Goldpreis inzwischen rund vier Mal höher ist als die Summe, die hier festgehalten ist.“

Bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs für 1981, als die Stahlkrise einen neuen Höhepunkt erreichte, erklärte Pierre Werner am 11. November 1980, dass die Arbed neue staatliche Zuschüsse verlangt habe und der Staat sparen müsse: „Dès lors il serait irresponsable d’utiliser dès maintenant toute la réserve budgétaire. Le fonds de crise n’est même pas directement disponible. Le moment d’en mobiliser les fonds ne me paraît pas venu. Il constitue une réserve de dernier recours en cas de véritable crise nationale. Nous devrons sans aucun doute recourir plus fréquemment et peut-être plus amplement au marché des capitaux pour financer la restructuration de notre potentiel de production, mais sans perdre de vue les limites de notre marché financier national.“ Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, als die Regierung Banken rettete, griff sie nicht auf die Mittel des Krisenfonds zurück.

Nun kommt durch die beschleunigte Körperschaftsteuerabrechnung wieder unerwartet viel Geld in die Staatkasse. Deshalb will die Regierung aus dem Krisenfonds, der seit 2001 im Staatshaushalt unter Investitions- und anderen Fonds geführt wird, einen „Fonds de rééquilibrage budgétaire“ machen, womit die letzte Erinnerung an die soziale Zweckbestimmung, die bei der Schaffung des Fonds betont worden war, verschwindet. Künftig soll das Fondsvermögen laut geplanter Gesetzesänderung „aux fins exclusives de réduire un solde budgétaire déficitaire“ dienen.

„Die Idee hinter diesem neuen Fonds ist nämlich, in den Jahren, da der Haushalt einen Überschuss aufweist, dieses Geld in den Fonds zu geben, um es dann in jenen Jahren, wenn es ein Defizit gibt, zu nehmen, um den Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, hatte Pierre Gramegna vergangene Woche dem Parlament erklärt. Der Fonds soll die Maastrichter Austeritätskriterien und das AAA bei den Rating­agenturen gegen das von -0,5 auf +0,5 erhöhte mittelfristige Haushaltsziel verteidigen – wenn die europäischen Haushaltsregeln dies dann zulassen.

Das politisch aufgeladene Wort „Krise“ soll restlos aus dem Gesetz verschwinden und durch den technokratischen Euphemismus „chocs économiques ou budgétaires“ ersetzt werden. So werden Diskussionen vermieden, ob gerade eine Krise herrscht, wie das Tripartitegesetz sie schon vor 40 Jahren als „crise manifeste“ definiert hatte. Weil die Versuchung groß sei, dass die Regierung die Fondsersparnisse zweckentfremdet, wie der Staatsrat in seinem Gutachten vom 1. Juli 1938 warnte, sieht das Gesetz derzeit vor, dass die Mittel des Fonds nur durch ein Sondergesetz ausgegeben werden dürfen. Diese Klausel will der Finanzminister nun streichen, künftig soll er allein über die Mittel verfügen, um ein Haushaltsdefizit zu verringern.

Romain Hilgert
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