Informationsgesellschaft

Die neuen Kriminellen

d'Lëtzebuerger Land du 09.12.2010

Heute loben wir die freie Informationsgesellschaft. Aus dem Wikileaks-Debakel, jenem weltweiten Erdbebenriss quer durchs Kontor der US-Geheimniskrämer, können wir zwei Lehren ziehen. Die erste: Man muss kein großes Licht sein, um Diplomat zu werden. Was sich da anhäuft an dilettantischer Bespitzelung, trivialpsychologischen Urteilen, billigem Beschass auf peinlichstem Stammtischniveau, wirft ein merkwürdiges Licht auf die gediegenen Herren und Damen, die sich gern als Botschafter mit perfekten Manieren ausgeben. Wahrscheinlich ersetzt die rechte Parteizugehörigkeit den Nachweis von Verstand und Einfühlungsgabe. Da scheint hinter unserem Rücken eine Armee von hochstaplerischen Amateuren am Werk zu sein, die sich auch noch anmaßen, stellvertretend für ihre Nation zu sprechen.

Die zweite Lehre ist bedenklicher: Weltweit sind die bloßgestellten Politiker nur zur miserablen Flucht nach vorne fähig. Kein Hauch von kritischer Analyse, keine Spur von Unrechtsbewusstsein. Julian Assange, der Wikileaks-Motor, wird mit allen unerlaubten Mitteln gejagt wie ein Schwerverbrecher. Das Vergewaltigungsdelikt, das ihm in Schweden angehängt wird, ist vermutlich so real wie die Massenvernichtungswaffen, die Amerikas Geheimdienste einst Saddam Hussein unterjubeln wollten. Man weiß ja, mit welch armseligen Tricks und Rechtsverbiegungen die Herren Geheimdienstler arbeiten. Es ist sicher kein Problem, mit viel Geld irgend­eine Frau zu kaufen, die bereitwillig aussagt, von Assange missbraucht worden zu sein. Genau diese fiesen Praktiken hat Assange ja aufgedeckt. Jetzt schlagen die Bloßgestellten mit noch fieseren Waffen zurück.

Der Überbringer der schlechten Nachricht wird kurzerhand kriminalisiert. Die Substanz der Nachricht, der gesetzesbrecherische Fundus, wird im Handumdrehen unterschlagen. Der eigentliche Verbrecher ist urplötzlich jener, der Verbrecher aus ihrer Dunkelzone zerrt. Als der palestinensische Journalist Kawther Salam die Fotos von 200 israelischen Kriegsverbrechern aus dem Gaza-Überfall von Dezember 2008 bis Januar 2009 ins Netz stellte und weltweit zugänglich machte, musste er wegen Morddrohungen die Flucht ergreifen und in Österreich um Asyl bitten. Alle politischen Parteien in Israel, Mehrheit wie Opposi-tion, sprachen sofort von Staatsverrat, Kapitalverbrechen, unzulässigem Angriff auf Israel. Das Pikante an Salams Kriegsverbrechergalerie ist, dass alle betroffenen Militärs freimütig ihre Untaten zugegeben hatten. Nach dem Motto: Krieg ist eben Krieg, auch wenn ganz nebenbei 415 palestinensische Kinder ermordet wurden. Ihre Geständnisse sind dokumentiert, und nicht etwa eine heimtückische Erfindung ihrer Gegner. „Das Leben der Palästinenser ist viel, viel unwichtiger als das Leben unserer Soldaten“, kommentierte ein ranghoher israelischer Uniformträger. Mit seiner Aufdeckung bewegt sich der Journalist Salam genau auf der gleichen Linie wie Assange. Auch er gerät wegen seiner aufklärerischen Tat ins Fadenkreuz. Worüber er aufklären wollte, wird drastisch bagatellisiert. Der eigentliche Kriminelle wird so zum Märtyrer, der Unrechtsbekämpfer zum Staatsfeind.

Leider beteiligen sich an dieser Verdunkelung mit besonderem Eifer die Politiker. Zwar stellen sie sich effektvoll dar als die wahren Repräsentanten des Volkes, aber wenn das Volk Transparenz wünscht, verschwinden die Herrschaften reflexartig wieder in ihren Dunkelkammern. Im Dunkeln ist gut munkeln, der blöde Bürger wird im politischen Raum nur als störend empfunden. Wenn er sein Recht auf Information einfordert, wird er entweder zum Provokateur ernannt oder herablassend der Ahnungslosigkeit bezichtigt. Findet er selber den Dreh, diese tatsächliche Ahnungslosigkeit aufzuheben, wie Julian Assange, wird er zum Abschuss freigegeben. In anderen Worten: kriminell ist nicht, wer vertuscht, sondern wer Licht in kriminelle Angelegenheiten bringt.

Herr Juncker ist nach eigenem Bekunden „sehr schockiert“ über die Wikileaks-Veröffentlichungen. Sein Schock hat aber keinen inhaltlichen Bezug, sondern nur einen rein formalen. Der Premier findet es „unzulässig, das Leben anderer Menschen aufs Spiel zu setzen.“ Aha. Das soll er mal laut und deutlich seinen amerikanischen Freunden sagen. Die haben nämlich das Leben zehntausender Zivilisten nicht nur aufs Spiel gesetzt, sondern ganz konkret ausgelöscht mit ihren dreckigen Kriegen. Doch zu dieser elementaren „Freundschaftskritik“ hat Herr Juncker nicht den Mut.

Genauso wenig wie sein unterwürfiger Außenminister, der öffentlich Frau Clinton tröstet für die Schmach, die sie erlitten haben soll, und ebenso öffentlich trompetet, die amerikanisch-luxemburgische Freundschaft sei so stark und unerschütterlich wie eh und je. In wessen Namen, wenn nicht in ihrem eigenen, treten die beiden Herren eigentlich auf? Haben sie nicht mitbekommen, dass die große Mehrheit ihres Volkes die Wikileaks-Vorgehensweise begrüßt? Sind sie schon so abgekapselt, dass sie uns biederen Staatsbürger nicht einmal mehr wahrnehmen?

Guy Rewenig
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