Die kleine Zeitzeugin

War Jeanne ein Fake?

d'Lëtzebuerger Land vom 11.01.2019

Es war einmal eine alte Frau. Von Tag zu Tag wurde sie älter. Was nicht außergewöhnlich ist, so lange man Aufenthaltsgenehmigung hat. Außergewöhnlich war, dass sie einfach nicht aufhörte damit. Immer mehr Jahre zählte sie, immer mehr Tage, von denen man hätte annehmen können, sie seien längst gezählt. Aber sie scherte sich nicht darum, sie machte weiter, und so addierte man weiter, die Stunden, die Minuten, fieberte den Rekorden entgegen, die sie locker brach. Wobei sie nicht viel machen musste, außer eben weiter zu machen.

Sie wird zum Star, zum Superstar. Das Bild der zarten Frau mit den zarten Silberlöckchen flimmert über die Weltbildschirme, wird zum Oldie-Logo, zum Inbegriff der Alten, die zäh und rebellisch einfach dableibt. Alles ist, wird möglich, sagt das Bild der Frau, die Portwein und Zigaretten mag, toll, alles ist möglich, das kurze Age der Anti-Ager_innen beginnt.

Bis wieviel geht es? Alle Welt starrt gebannt auf die fidele Veteranin unter den globalen, offiziell als Anti-Todeskandidat_innen antretenden Grufties. Ist sie nicht die coolste, sie macht was mit Techno? Nicht so eine Aufgebahrte wie ihre Konkurrent_innen, nicht so eine außerirdische Hülle! Nicht so ein Püppchen im pinken Kleidchen an der Hand eines Betreuers. Sie hat alle überholt, überflügelt, sie hat gewonnen. Geht es also immer so weiter, so heiter auch noch, hört es nie auf? Wir vielleicht auch nicht? Wegen dem Portwein?

Fragen werden ihr ins Ohr gebrüllt, nicht allzu komplexe. Sie beantwortet sie mit Contenance, manchmal mit Witz. Es scheint ein unkompliziertes Leben gewesen zu sein, die Schläge, die ihr das Schicksal der Legende nach verpasst hat, sind nicht Thema. Sie ist eher der Typ Genießerin, vielleicht ist das ja das Geheimnis, murmeln die, die auf der Suche nach dem ewigen Leben sind, dem hier natürlich. Gott ist vor allem der, der sie vergessen hat. Dabei war sie schon vor dem Eiffelturm da.

Mit 110 bequemt sich die bourgeoise aus Arles, die mit 85 das Fechten erlernt und dem Notar, dem sie ihr Haus auf Leibrente überlassen hat, beim Sterben nobel den Vortritt lässt, ins Altersheim. Mit jedem Tag, den die Betagte absolviert, steigt der Ruhm. Gern spielt sie ihre Rolle im Medienzirkus, allez Jeanne!, zu drolligen Darbietungen wird applaudiert. Sie wird getätschelt, mit Küsschen überhäuft, schelmisch lugt sie hinter einem Fächer hervor, ein souveränes Maskottchen.

Der pompöse Blumenschmuck, der sich beim letzten Geburtstag hinter ihr auftürmt, hat schon etwas von einem Friedhofsarrangement. Der gequält wirkenden Frau im Rollstuhl mit den toten Augen, die auf ein Podest vor Publikum geschoben wird, wird ein Leckerli zwischen die Lippen geschoben, mechanisch nickt sie. Die Erscheinung im Rollstuhl wird präsentiert und weihevoll beglotzt, dann werden die Tage wieder gezählt, 146 an der Zahl.

Dann stirbt sie.

Und jetzt der Russengau.

Jeanne ein Fake? Eine Tochter, die ihre eigene Mutter spielt? Bis zum sanften Ende? Die meisten Töchter leben diese Vorstellung im Alter von vier Jahren aus, dann haben sie es hinter sich. Eine kleine bourgeoise Gaunerin, die als Mittdreißigerin auf der Bühne des Provinztheaters eine Sechzigjährige gibt? Ja, die Umstände. Ja, das Kinn und die Ohrläppchen und die Nasenspitze, und auramäßig könnte man wirklich ins Grübeln kommen.

Jeanne ein Fake? Eine bessere Alte, die Männerquote ist ja leider nicht einzuhalten, hat sich uns bisher nicht vorgestellt. Und bitte, sie hat Van Gogh gesehen, diesen fiesen, stinkenden Kerl, diesen Widerling! Kann sie sich so leidenschaftlich in ihren Abscheu hinein steigern, wenn fräulein Van Gogh nie erschienen ist? Und warum, weil dies eine geile Nummer ist, interessanter als der Feigenbaum im Hof? Dann hätte sie, wer auch immer sie ist, ein bemerkenswertes Feeling für Ego-Inszenierung. Ganz zu schweigen von Schauspielkunst und Disziplin.

Und dazu Lebenslänglich als eigene Mutter.

Wenn das keine Leistung ist.

Michèle Thoma
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