Nach drei Jahren kommt endlich Bewegung in die Reform des Insolvenzrechts. Ganz stimmig ist das alles noch nicht

Insolvenzrechtsreformverschleppung

d'Lëtzebuerger Land du 01.04.2016

170 Millionen Euro hat allein die Grundbuch- und Domänenverwaltung (AED) 2015 aufgrund von Firmeninsolvenzen, -abwicklungen oder verlassenen Firmensitzen sozusagen abschreiben müssen. Der Betrag der beim Finanzminister beantragten décharges hat sich laut Aktivitätsbericht der AED im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht. Für die Steuerverwaltung (ACD) liegen noch keine definitiven Zahlen für das vergangene Jahr vor, wie das Finanzministerium mitteilt, aber es soll weniger sein als 2014, als die ACD décharges in Höhe von 24,6 Millionen Euro angefragt hatte. Bei der Sozialversicherung belaufen sich die décharges, laut Alain Reuter, Direktionsbeauftrager im Centre Commun der Sozialversicherung, nach Korrekturen im Schnitt auf 15 Millionen Euro jährlich.

Weil die Verfahren sich über Jahre ziehen können, sagen die Zahlen nichts über die aktuelle Konjunktur aus. Doch angesichts des beträchtlichen finanziellen Schadens, der den Steuerverwaltungen (und der Sozialversicherung) durch Pleiten und Abwicklungen entsteht, hatte auch der Wirtschafts- und Sozialrat in seinem Gutachten zur geplanten Steuerreform Eile bei der Reform des Insolvenz­rechts angemahnt. Sie wird sozusagen seit 2013 verschleppt. Als der damalige Justizminister François Biltgen (CSV) seinen Entwurf vorlegte, waren die großen Pleiten im Baugewerbe, Socimmo, Pedinotti, Mangen und Co. ebenso frisch in Erinnerung wie die komplizierten Insolvenzen der isländischen Banken. Nach dem Srel-Skandal und dem Regierungswechsel geriet die dringliche Reform in Vergessenheit, so dass der Staatsrat zweimal, 2014 und 2015, schriftlich beim Staatsminister nachfragen musste, wie es mit der unter der Vorgängerregierung angestoßenen Reform weitergehen solle.

Nun kommt Bewegung ins Dossier. Bis Ende Mai hat der Vorsitzende der parlamentarischen Unterkommission „Reform des Insolvenzrechts“ Franz Fayot (LSAP), für jeden Montagmorgen eine Sitzung von jeweils drei Stunden angesetzt, um sich Artikel für Artikel durch die zahlreichen und umfangreichen Gutachten zu arbeiten. Stoff gibt es genug, denn an Problemen mangelt es nicht, auch wenn sich Daniel Ruppert, Regierungsrat im Justizministerium, freut, keines der Gutachten komme zum Schluss, die Reform gehe in die völlig falsche Richtung. Dabei ist die Reform bereits veraltet, noch bevor sie stattgefunden hat. Das belgische Gesetz, das Ruppert und seinen Kollegen beim Schreiben als Vorlage diente, wurde in der Zwischenzeit bereits wieder reformiert, weil die gewünschte Wirkung ausblieb. Der Luxemburger Entwurf trägt dieser Weiterentwicklung bislang nicht Rechnung. Die Justiz wirft in ihrem Gutachten relativ grundlegende Fragen auf. Beispielsweise über die künftige Rolle der Richter an den Bezirksgerichten. Von ihnen wird künftig nicht nur verlangt, Recht zu sprechen, sondern auch über die Validität eines unternehmerischen Unterfangens zu entscheiden. Die grundlegende Frage ist demnach folgende: Was qualifiziert die Richter dazu? Darüber hinaus gibt es Datenschutz-Bedenken darüber, wer wie welche Informationen über Firmen in Schwierigkeiten teilt oder verwaltet.

Bei all den technischen Problemen ist die Frage in den Hintergrund geraten, ob die geplante Reform dazu beitragen wird, die hohe Zahl an Insolvenzen zu verringern – und damit verbunden die Kosten für Staat und Allgemeinheit. Zur Erinnerung: Der Entwurf sieht ein vierstufiges System vor; die Vermeidung von Insolvenzen durch Frühwarnung, die Reparatur durch neue Reorganisationsinstrumente, die Repression, durch eine verschärfte Verfolgung von Firmenchefs, die Insolvenzen leichtfertig oder mit Absicht herbeiführen, sowie Maßnahmen sozialer Natur, die dem Erhalt der Arbeitsplätze dienen und unglücklichen, aber ehrlichen Unternehmern erlauben sollen, sich aus der finanziellen Misere zu befreien. Als große Neuerungen sieht der Entwurf vor, eine „Warnblinkanlage“ im Wirtschaftsministerium einzurichten. Das Sekretariat des Konjunkturkomitees soll Daten sammeln und an eine Cellule d’évaluation des entreprises en diffculté (CEvED) weiterleiten, in der auch ACD, AED sowie die Sozialversicherung vertreten sein sollen. Die kann einer Firma in Schwierigkeiten empfehlen, die Dienste eines Vermittlers in Anspruch zu nehmen, um Management-Probleme zu lösen oder mit den Gläubigern eine Vereinbarung zur Schuldentilgung zu verhandeln. Lassen sich die Schwierigkeiten so nicht beheben, soll künftig vor Gericht eine Reorganisation unter Gläubigerschutz möglich werden.

Dabei tauschen sich Steuerverwaltung, Grundbuch- und Domänenverwaltung und Sozialversicherung seit 2008 bereits verstärkt über säumige Firmen aus; zuvor hatten Arbeitgebervertreter geklagt, es komme vor, dass eine Verwaltung ein Insolvenzverfahren auslöse, während die andere noch mit der gleichen Firma einen Zahlungsplan verhandele. Beziehungsweise, dass sie Geld einforderten, während andere staatliche Behörden, beispielsweise im Fall von Baufirmen, die Zahlung von Rechnungen an die gleichen Firmen verzögerten. Laut Aktivitätsbericht der AED traf sich das Insolvenzkomitee 2015 elf Mal und besprach dabei 1 001 Fälle. „ Einen Seiltanz“ nennt es Guy Heintz, Direktor der Steuerverwaltung – einerseits müssen die Verwaltungen, die geschuldeten Steuern und Beiträge eintreiben, und andererseits Acht geben, Firmen nicht wegen vorübergehender Liquiditätsschwierigkeiten in den Konkurs zu treiben. Die neue Warnblinkanlage im Wirtschaftsministerium, erklärt Alain Reuter, soll dazu führen, dass die Verwaltungen nicht erst mit den Beratungen über Firmen in Schieflage beginnen, wenn Steuerbehörden und die Sozialversicherung, die laut Motivenbericht des Gesetzentwurfs 90 Prozent aller Insolvenzverfahren auslösen, die Vorladung schon vorbereitet haben. Sondern früher, wenn eine Sanierung noch möglich sei.

Ob das früh genug ist und als Präventionsmaßnahme ausreicht, daran hegt man in der Handels- wie auch in der Handwerkskammer Zweifel. Unter anderem deshalb, weil doch erst eingegriffen werde, wenn es bereits Schwierigkeiten gibt, erklärt Emilie Pirlot von der Handelskammer. Und weil sich die allermeisten Firmenschefs die eigene Schieflage gar nicht eingestehen wollten, wie sie hinzufügt. „Das ist eher Vorhersage denn Vermeidung“, sagt die Juristin Pirlot, bei der Handelskammer für den Bereich Firmengründungen zuständig, über das Frühwarnsystem. Sie hätte sich ein Präventionszentrum gewünscht, das Firmenchefs ab der Gründung begleitet, Ratschläge gibt, noch bevor Probleme entstehen, und das kostenfrei. Denn was genau der im Entwurf vorgesehene Vermittler eigentlich können muss, was seine Aufgabe ist und womit ihn ein Firmenchef, der ohnehin knapp bei Kasse ist, bezahlen soll, sei nicht ganz klar, gibt Pirlot zu bedenken. „In Belgien“, sagt sie, „sind 70 Prozent aller Firmen, die Vermittlerdienste genutzt haben, trotzdem in der Insolvenz gelandet.“

Für Tom Wirion, Direktor der Handwerkskammer, setzt der Entwurf in Sachen Prävention ohnehin nicht früh genug an. In seinen Augen ist die beste Präventionsmaßnahme eine solide Qualifikation des Unternehmers und Firmengründers. Verfüge er oder sie über einen Meisterbrief oder ähnlich hohe Qualifikationen, seien die Erfolgs- und Überlebensaussichten der Firma vier Mal besser als wenn der Firmenchef weniger gut ausgebildet sei. „Seit 15 Jahren reden wir über Insolvenzen aber nie über die Ursachen, die dazu führen“, bedauert Wirion. Die Handwerkskammer hat ermittelt: Fast 70 Prozent aller Handwerkerbetriebe seien fünf Jahre nach der Firmengründung immer noch im Geschäft, während nur 54 Prozent der Firmen tous secteurs confondus nach fünf Jahren noch existierten. Besonders schlecht sind die Erfolgsaussichten im Restaurant- und Gaststättengewerbe: Nur 43 Prozent aller Horeca-Unternehmen überleben das vierte Geschäftsjahr. Zwangsversteigerungen von Kneipenmobiliar und Küchen werden regelmäßig in den Zeitungen angekündigt. Im Gaststättengewerbe sind die Eintrittsbarrieren in Punkto Qualifikation besonders niedrig. „Es reicht nicht aus, Schuhe zu mögen, um ein Schuhgeschäft führen zu können“, resümiert Pirlot die Situation.

Oft genug, gibt Pirlot zu bedenken, finden die Insolvenzverwalter überhaupt keine Aktiva mehr vor. Dann blieben alle auf ihren Schulden sitzen. Der Staat, die Banken, die Mitarbeiter. Dabei sind es eben oft Firmen mit wenig bis keinen Mitarbeitern, die insolvent werden. Im Motivenbericht zum Entwurf hatte das Justizministerium die Daten für die Insolvenzen im ersten Halbjahr 2012 aufgeschlüsselt, dem Jahr, in dem erstmals mehr als 1 000 Insolvenzen registriert wurden. Ein Drittel der Firmen beschäftigte überhaupt keine Mitarbeiter, 42 Prozent der insolventen Betriebe beschäftigten nur den Firmenchef und 20 Prozent zählten bis zu fünf Beschäftigte. Die Mitarbeiterzahl, erklärt Guy Heintz, sei nicht unbedingt ein Indikator für die Höhe der Passiva. Oft genug gebe es in Firmen ohne Mitarbeiter hohe Schulden. Die Autoren des Entwurfs hatten ihrerseits darauf hingewiesen, dass seit Ausbruch der Finanzkrise ausländische Investoren verstärkt das Interesse an ihren Briefkastenfirmen in Luxemburg verlören. 2014, als insgesamt 850 Insolvenzen ausgesprochen wurden, führte das Finanz- und Versicherungswesen die Hitliste mit 131 Fällen an. Darauf folgten das Gaststättengewerbe mit 131 und das Baugewerbe mit 116 Insolvenzen. Doch bei leeren Briefkästen und Kneipen werden auch die geplanten Reorganisationsmaßnahmen keine wirkliche Veränderung in der Statistik und in der Staatskasse bewirken können. Denn auch wenn allgemein begrüßt wird, dass die neuen Prozeduren wesentlich vereinfacht werden sollen: In solchen Fällen sind sie immer noch zu kompliziert und zu kostspielig. „Kleine und mittlere Betriebe werden da immer noch dazu tendieren, ein Insolvenzgeständnis abzulegen“, meint Pirlot.

Zum Problem der Qualifikation und Führungsqualitäten der Firmenchefs könnten sich in Zukunft außerdem weitere hinzu gesellen. Vor einem Jahr hinterlegte Justizminister Felix Braz (déi Gréng) im Parlament den Entwurf über die vereinfachte Gesellschaft mit beschränkter Haftung aka Ein-Euro-Gesellschaft. Da sie auf ausdrücklichen Wunsch der Handelskammer eingeführt wird, drückt sich die Juristin Emilie Pirlot vorsichtig aus, wenn es um die Wirkung der Sàrl simplifiée auf die Insolvenzstatistiken geht: „Sie wird keine Insolvenzen verhindern, aber dafür die Haftung der Firmengründer beschränken.“ Das findet sie positiv, fügt aber hinzu:. „Wir predigen immer wieder, dass das Kapital der Firma den Aktivitäten angepasst sein muss.“ Ob das wenig qualifizierten angehenden Unternehmern einleuchten wird? Zumal Firmengründer zunehmend keine Wahl haben, wie Pirlot selbst sagt. Seit der Krise beobachte man in der Handelskammer ein wachsendes Phänomen: Immer öfter erfolge die Firmengründung aus einer Notlage heraus, um die Arbeitslosigkeit zu vermeiden, nicht auf Basis einer guten Geschäftsidee und der Gelegenheit, sie umzusetzen, erzählt Pirlot.

Umso gefährlicher finden die Kammern, dass mit der Reform künftig simple Fehler in der Geschäftsführung ausreichen, um wegen Bankrotts verurteilt zu werden, wo heute noch schwerwiegende Fehler nachgewiesen werden müssen. Die Autoren des Entwurfs wollen damit auf niedrigen Verurteilungsquoten reagieren – in den Jahren 2009 und 2010 wurden in Luxemburg und Diekirch nur 26 Firmenchefs wegen Bankrotts und fünf wegen betrügerischen Bankrotts verurteilt. Vor Jahren hatte sich Oberstaatsanwalt Robert Biever aufgeregt, es fehlten Mittel und Grundlage, Betrüger zu verfolgen und andere Delikte im Zusammenhang mit Insolvenzen zu untersuchen. „Doch welcher Firmenchef begeht nie einen Fehler in der Betriebsführung?“, fragt Tom Wirion. „Wer Risiken eingeht, begeht auch Fehler“, pflichtet Pirlot ihm bei, so werde gescheiterten, aber ehrlichen Firmengründern keine zweite Chance eingeräumt. Wer soll da noch die Firmengründung wagen? Und das obwohl die Handelskammer seit Jahren Trau dech predigt und die Regierung den Unternehmergeist fördern will?

Michèle Sinner
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