Künftig sollen Grenzpendler angeregt werden, ihren Wohnsitz in Luxemburg zu nehmen. Konzentrieren soll sich der Bevölkerungs-zuwachs in den urbanen Räumen und nicht wie bisher in den Dörfern

Auf in die Städte!

d'Lëtzebuerger Land du 31.01.2014

Die neue Regierung hat sich kürzlich ein Update über die voraussichtliche Entwicklung des Landes in den nächsten Jahren und bis 2030 erstellen lassen. 2020, so prognostizieren das Statistikinstitut Statec und die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) in ihrem gemeinsamen Papier, dürfte Luxemburg 600 000 Einwohner und 450 000 Berufstätige zählen. Zehn Jahre später werde die Einwohnerzahl auf rund 675 000 angestiegen sein und die der Aktiven auf zwischen eine halbe Million und 550 000.

Ob das so eintritt? Wieso nicht. Anfang 2013 lag die Einwohnerzahl des Großherzogtums bei 537 000 und hat laut inoffiziellen Angaben die 540 000 seitdem überschritten. Beruflich aktiv waren Ende September 2013, so weit reichen die aktuellen IGSS-Daten zurück, in Luxemburg knapp 394 000 Personen. Für den Zuwachs an Einwohnern wie an Aktiven bis 2020 gehen Statec und IGSS von einer jährlichen Rate von zwei Prozent aus. In den letzten zwei Jahren nahm die Zahl der Berufstätigen, trotz Krise, Monat für Monat sogar um durchschnittlich 2,2 Prozent zu. Die Bevölkerung wuchs in den letzten acht Jahren um durchschnittlich 1,9 Prozent.

Eine Portion Optimismus schwingt in diesen Prognosen mit. „Zwei Prozent“ entsprechen nicht nur dem, was bis Ende dieses Jahrzehnts eintreten dürfte, wenn man die bisherigen Trends fortschreibt. Sie deuten auch an, was erreicht werden müsste: Gekoppelt an eine Zielvorgabe von drei Prozent jährlichem BIP-Zuwachs wird daraus ein Szenario, in dem der Sozialstaat finanzierbar bleiben soll.

Vor sechs Jahren wurde noch anders kalkuliert. Die Krise war noch nicht voll ausgebrochen, die heimische Wirtschaft boomte noch, und man meinte, das BIP werde längerfristig um vier Prozent im Jahresschnitt wachsen, die Zahl der Berufstätigen um bis zu 2,5 Prozent. So fielen damals vor allem die Vorhersagen über die beruflich Aktiven höher aus als heute: Statt mit 550 000 oder einer halben Million im Horizont 2030 wurde mit 575 000 gerechnet – darunter weit über 200 000 Frontaliers.

Wenn jetzt von einer gemächlicheren Entwicklung ausgegangen wird – ab Ende der 2010-er Jahre und bis 2030 rechnen Statec und IGSS nur mit einem Bevölkerungs- und Aktivenzuwachs um 1,1 Prozent im Jahr –, fragt sich nicht nur, wie der Sozialstaat dennoch finanziert werden soll. Sondern auch, wie man selbst die geringeren Zuwächse organisiert und sie meistert in dem kleinen Land, in dem der Raum immer knapper wird und das bereits jetzt mit einem gravierenden Verkehrsproblem vor allem in den Spitzenstunden zu kämpfen hat. Je ein Drittel der Ein- und Ausstiege am Luxemburger Hauptbahnhof werden morgens zwischen 6.30 und 9.30 Uhr und nachmittags zwischen 16.30 und 19.30 Uhr gezählt. Dann ist auch die Autobahn A3 nach Frankreich, wo 42 Prozent der Berufspendler leben, in der Richtung, die die Frontaliers nehmen, drei bis vier Mal stärker ausgelastet als in der Gegenrichtung. „Wachstum“, auch wenn es sich abschwächt, wird damit zum sehr praktischen Problem für die Raumplanung.

Interessanterweise geht die Abteilung für Landesplanung im Nachhaltigkeitsministerium davon aus, dass die Zahl der Frontaliers nur noch „moderat“ wachsen wird. Selbst 2030, wenn es in Luxemburg bis zu 550 000 Berufstätige geben könnte, würden weniger als 200 000 Grenzpendler täglich nach Luxemburg zur Arbeit fahren, meinen die Landesplaner. Im September 2013 waren knapp 165 000 oder 42 Prozent der 394 000 hierzulande Aktiven Frontaliers. Kämen 17 Jahre später allenfalls 200 000 Pendler auf 550 000 Aktive, wäre das eine Verbesserung um sechs Prozentpunkte; und das bei einer gegenüber heute um 39 Prozent erhöhten Berufstätigenzahl und obwohl es immer heißt, die ansässige Bevölkerung sei für den Bedarf der heimischen Wirtschaft nur unzureichend qualifiziert, der Rückgriff auf die Arbeitskräftereservoirs jenseits der Grenzen also unumgänglich.

Die Antwort der Landesplaner lautet: Ansiedlung. Genaueres sollen die so genannten Plans sectoriels beschreiben, die seit Jahren erwartet werden und nun spätestens im Mai publik sein sollen. Sie definieren, was an Landesfläche für welche Verkehrswege zu reservieren ist, wo neue Gewerbegebiete erschlossen werden können, wo künftig bevorzugt Wohnungen entstehen sollen und wie der damit verbundene Flächenverbrauch so gesteuert werden soll, dass er nicht zu Lasten schützenswerter Landschaften geht.

Mit Ansiedlung ist gemeint, möglichst viele Frontaliers anzuregen, den Wohnsitz in Luxemburg zu nehmen. Beziehungsweise zu verhindern, dass Ausländer, die hier einen neuen Arbeitsplatz antreten, sich im Heimatland kurz hinter der Grenze niederlassen. Belastbare Daten darüber gibt es zwar kaum, doch im Nachhaltigkeitsministerium ist man ziemlich überzeigt davon, dass der Ansiedlungs-Trend schon läuft. Dass die Hauptstadt heute an die 104 000 Einwohner zählt, während es vor acht Jahren nur 85 000 waren, und dass dort die Franzosen die Portugiesen als zahlenmäßig stärkste ausländische Bevölkerungsgruppe überrundet haben, sei ein Anzeichen dafür.

Um den Trend zu verstärken, soll im Plan secto-riel Logement „urbanes Wohnen“ massiv stimuliert werden. Einerseits, um kritische Massen für den öffentlichen Transport zu schaffen. Andererseits, weil der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte zunehme, die aus Großtädten kommen und sich auch in Luxemburg weder in einer Schlafgemeinde im Umland der Hauptstadt niederlassen möchten, noch in einem Dorf. Der starke Aufschwung im Wohnungsbau, der herbeigeführt werden soll – 3 500 bis 4 000 neue Wohnungen sollen jedes Jahr neu entstehen, nicht nur 2 500, wie in der Vergangenheit –, soll auf die wichtigsten Städte konzentriert werden. Ihnen wird der Plan sectoriel vorschreiben, dafür zu sorgen, dass ihre Bevölkerung jährlich um mindestens zwei Prozent wächst. Dazu sollen diese Gemeinden nicht nur die nötigen Flächen in ihren Generalbebauungsplänen ausweisen, sondern sie um konkrete Teilbebauungspläne für „nouveaux quartiers“ ergänzen. Wer das nicht tut, würde seinen Generalbebauungsplan vom Staat nicht genehmigt erhalten und damit urbanistisch handlungsunfähig.

So nachvollziehbar der Ansatz ist: Er bricht gründlich mit der Politik der letzten Zeit. Vor sechs Jahren hatte die damalige Regierung nach dem wohnungsbaupolitischen Mea culpa ihres CSV-Premiers Jean-Claude Juncker ein Wohnungsbaupaktgesetz verabschiedet, das sogar dem kleinsten Dorf Geldgeschenke verspricht, wenn die lokale Einwohnerzuwachsrate wenigstens 1,5 Prozent jährlich übersteigt. Die Rechnung ging auf, aber abgesehen von der Hauptstadt vor allem im ländlichen Raum, von dem der größte Teil des Bevölkerungszuwachses absorbiert wurde. Kein Wunder, dass der Autoverkehr von dort beträchtlich ist: Das 2012 vom damaligen Nachhaltigkeitsminister Claude Wiseler (CSV) vorgestellte Mobilitätskonzept MoDu zeigt, dass von 333 763 motorisierten Verkehrsbewegungen pro Tag im Landesinnern 103 619 vom „Reste du pays“ ausgingen, dem weder die Agglomeration um die Hauptstadt (die in MoDu bis nach Mersch reicht), noch die dichtbesiedelte Südregion, noch die Nordstad angehören.

Um die Entwicklung umzukehren, soll der sektoriel-le Wohnungsbauplan die Landgemeinden nach und nach vom Wohnungsbaupakt entwöhnen. Sechs Jahre lang soll ihnen noch erlaubt werden, in der Bevölkerung um zwei Prozent zu wachsen, danach während zwölf Jahren um 1,5 Prozent, ehe nach Ablauf dieser Frist nur noch ein Prozent erlaubt ist und die Dörfer bei „Eigenentwicklung“ angekommen sein sollen. Legen die städtischen Gemeinden in den nächsten Jahren mit dem Wohnungsbau ähnlich los wie Luxemburg-Stadt und gewährt man den Dörfern einen sanften Ausstieg, käme jeder zu seinem Recht und der neue Kurs wird politisch durchsetzbar, so die Hoffnung im Nachhhaligkeitsministerium.

Eine weitere spannende Frage aber ist die, ob der raumplanerische Voluntarismus reichen wird, um Luxemburg zu den Zuwächsen an Bevölkerung und Berufstätigen zu verhelfen, die „zur Finanzierung des Sozialstaats“ nötig sein sollen.

Denn Luxemburg fungiere, so stellte im vergangenen Herbst die in Metz ansässige Agence d’urbanisme et de développement durable (Agape) fest, als wirtschaftlicher Motor eines Großraums, der im Süden bis hinter Metz reicht, im Osten bis hinter Saarbrücken, und der 2,6 Millionen Einwohner und 1,6 Millionen Berufstätige zählt. In diesem „Herzen“ der Großregion Saarlorlux wurden in den letzten zehn Jahren 130 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, davon 100 000 in Luxemburg allein. Weil der Bevölkerungszuwachs innerhalb Luxemburgs zu klein war, um den Arbeitskräftebedarf zu decken, entstand ein Nachfragesog, durch den in einem Territo-rium, das im 30-Kilometer-Radius über das Staatsgebiet des Großherzogtums hinausreicht, sich fast zwei Drittel des gesamten Bevölkerungszuwachses der Großregion realisierten.

In den kommenden 20 Jahren aber werde Luxemburg nicht mehr wie bisher auf Pendler zurückgreifen können, schätzt Agape in einer im Oktober vorgestellten Studie. Hauptgrund sei der demografische Wandel. Rheinland-Pfalz und das Saarland würden wegen der Alterung ihrer Bevölkerung bis 2030 insgesamt 650 000 Berufstätige verlieren, die verbleibenden aber wahrscheinlich eher von konkurrierenden Metropolen wie Köln und Frankfurt angezogen statt von Luxemburg. Die wallonische Bevölkerung werde zwar leicht wachsen, doch von dort könne Luxemburg nur mit 20 000 zusätzlichen Grenzpendlern rechnen. Bleibe Lothringen als Hinterland, in dem sich 2030 vielleicht tatsächlich 100 000 zusätzliche Pendler nach Luxemburg mobilisieren lassen – wenn Luxemburg dann bis zu 230 000 Arbeitskräfte fehlen, um 150 000 gegenüber heute neu geschaffene Jobs zu besetzen und 80 000 Inländer zu ersetzen, die dann in Rente gegangen sein werden. Doch „comment répondra-t-on à nos propres besoins ‚lorrains’?“, fragt die Agape-Studie. Und sie warnt nicht nur vor kaum beherrschbaren Pendlerströmen, sondern auch vor einem Konkurrenzkampf der Nachbarstaaten um Menschen im arbeitsfähigen Alter.

Peter Feist
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