Digitaler Stammtisch

Nach dem Fäkaliensturm

d'Lëtzebuerger Land vom 07.02.2014

Heute loben wir den digitalen Stammtisch. Wir möchten eine Lanze brechen für all die Anonymen, die sich tagtäglich kreativ im weltweiten Netz tummeln. Ihnen wird in letzter Zeit arg zugesetzt. Sie stehen plötzlich unter Generalverdacht und beziehen heftige Prügel. Dabei waren sie immer schon anonym. Ihr registrierter Firmenname war bislang „schweigende Mehrheit“. Seit wann aber hat das Schweigen Namen und Adresse? Wenn die Anonymen ihr vieldeutiges Schweigen aufgeben und sich einem vieldeutigen Wutanfall hingeben, können wir nicht verlangen, dass sie auch noch eine Kopie ihrer Identitätskarte ins Netz stellen. Und die Anonymen können sich nicht einmal wehren, weil sie ja anonym sind. Namenlose Gegenwehr ist nämlich unsinnig. Hallo, wer wehrt sich da? Keiner da? Nur ein Gespenst?

Bitte, hören wir doch auf, die Anonymen zu beleidigen. Wieso unterstellen wir ihnen ständig, nur kleine Feiglinge zu sein, unanständige Zeitgenossen, die es nicht fertigbringen, per Namenszug ihre Ansichten zu validieren? Ist der Anonyme nicht in letzter Konsequenz ein Held, der nicht nur tapfer die Leiden des Anonymats auf sich nimmt, sondern auch seine Standpunkte großzügig der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, ohne kleinlich auf Urheberrechte zu pochen?

Seien wir doch ehrlich: Der Anonyme ist der Asket unter den Meinungsträgern, das klösterliche Wesen im Hintergrund, das seine Identität gezielt verwischt, um bloß nicht als Egomane wahrgenommen zu werden. Der Anonyme verschwindet sozusagen im Volk mit seinen volkstümelnden Stellungnahmen. Er opfert seine Person, damit wir alle von seinen uneigennützigen Eingebungen zehren können.

Ja, früher waren wir ganz anderer Meinung. Da dachten wir: Es gibt doch eine sehr altmodische Eigenschaft, die Zivilcourage heißt. Allein der Gedanke an diese Qualität war leider schon wieder sehr altmodisch. Wie soll Zivilcourage denn erworben werden? Wer geht mit gutem Beispiel voran? Also, die Politiker können es nicht sein. Unter ihnen gibt es Berühmtheiten, die offensiv für das programmatische Lügen plädieren. In anderen Worten: Sie lehren uns, wie wir Anfälle von Zivilcourage geschickt vermeiden können. Wie aber soll der kleine, dumme Wähler Zivilcourage praktizieren, wenn seine großen, gescheiten staatlichen Vorbilder ihm das Gegenteil einflüstern?

Nein, Zivilcourage kann nicht der Grund sein, im weltweiten Netz die Anonymität aufzugeben. Wenn wir unsere beispielgebenden Politiker nachahmen, sorgen wir peinlichst dafür, dass all unsere Sauereien schön anonym bleiben, auch im Netz. Der Couragierte ist der Blöde. Er trägt seinen Namen zu Markte, der arme Trottel. Wie kann man nur so abgrundtief bekloppt sein? Wo doch der Markt flächendeckend anonym agiert. Und Courage nur noch ein Schimpfwort ist. Du Couragierter! Klingt wie: Du Abschaum!

Übrigens: Wenn der Herr Wolter, der auserwählte CSV-Vollstrecker, fordert, das Gesetz müsse einschreiten gegen die Anonymen, werden wir sehr misstrauisch. Da preisen wir schon fast die Vorzüge der Anonymität. Denn der Herr Wolter ist ein Mensch, der ununterbrochen droht und bedroht und sich immer irgendeinen Aufmüpfigen vorknöpfen möchte. Wie können wir uns gegen diese entfesselte Klerikalpolizei schützen? Indem wir taktisch und kreativ im Anonymat verschwinden.

Das war aber jetzt nur ein wenig nützlicher Exkurs. Denn das grundlegende Problem der Anonymen haben wir noch gar nicht erörtert. Wir reden von ihrem inneren Martyrium, ihren anonymatsgebundenen Höllenqualen. Wer sogar seinen eigenen Namen verleugnet, der gerät schnell an den Rand des umfassenden Identitätsverlusts. Wir erleben ja, was dann Schreckliches passiert. Es beginnt mit dem fortschreitenden Zerfall der Syntax. Plötzlich produziert der Anonyme nur noch fürchterlichen Sprachmüll, vergewaltigt die Grammatik, setzt die Orthografie außer Gefecht.

Das könnte man noch als künstlerische Freiheit werten, wenn nicht gleichzeitig ebenso unvermutet das Gedankenwirrwarr ausbrechen würde. Tag für Tag kotzt der arme Anonyme seine Irritationen einfach heraus. Ohne Rücksicht auf formale Aspekte. Dieser üble Brei schwappt dann hinein ins weltweite Netz, zum Beispiel zu RTL.lu, wo man liebevoll die große namen- und gesichtslose Kläranlage pflegt. Jedenfalls so lange, bis sie überläuft. Dann werden schnell die Kommentarfunktionen gesperrt. Und die guten alten Tabus wieder installiert. Aber nein doch, das ist doch keine Zensur, mein Gott! Nur Fäkalienbereinigung nachdem der Shitstorm getobt hat.

Wie einfach hat es doch der Meinungsträger, der mit seinem vollen Namen unterschreibt! Dieser bequeme Opportunist setzt sich einfach hin, überlegt dreimal, bevor er etwas niederschreibt, hat auch noch die Unverschämtheit, an seinen Sätzen herum zu drechseln, verwirft überm Schreiben sogar Gedanken, die ihn anspringen, und – Gipfel der Verdorbenheit – wagt sich nicht einmal an Themen, die er wegen Kenntnismangel nicht recht einschätzen kann. So ein feiger Sack! Den werden wir jetzt aber mal ganz schön fertigmachen. Weltweit. Im Netz! Wir anonymen Wächter der mentalen Vermummung!

Guy Rewenig
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