Greisch, Pol: D'Sonnesäit

Über Jahre

d'Lëtzebuerger Land vom 10.12.2009

Ein nicht sehr schmeichelhaftes Gerücht sagt den Luxemburgern eine gewisse Verkorkstheit in Gefühlsdin­gen nach –, hat man es im Luxemburgischen doch mit einer Sprache zu tun, in der man zwar mit äußerster Präzision spezifische Ausprägungen von Dummheit benennen kann, in der es aber gleichzeitig kein eigenes Wort für „lieben“ gibt. Das legt die Konsequenz nahe, dass es in dieser Sprache einfacher ist, zu medisieren und zu beleidigen, als Zuneigung zu bekunden.

In nahezu allen Erzählungen aus D’Sonnesäit stellt Pol Greisch diese Versiertheit im abschätzigen Gerede dem Unvermögen gegenüber, zu sagen, was einem wirklich am Herzen liegt. „Am Guichet“, ein Text von 1979, lässt einen Erzähler auf den Plan treten, der vom Fund einiger Briefe und eines Tagebuchs berichtet, die er und seine Frau nach dem Tod einer ihrer Mieter in dessen Wohnung finden. Die persönlichen Aufzeichnungen von Herrn Martin offenbaren eine über die Jahre auswegloser werdende Vereinsamung, die den ehemaligen Postbeamten zur Verzweiflung treibt, als eine Kundin, in die er verliebt ist, ins gleiche Haus zieht. Er traut sich kaum, die Frau anzusprechen, wenn er ihr im Treppenhaus begegnet, schreibt zu Hause etliche Briefe, die er nie abschickt, notiert jede Regung seiner Obses­sion in sein Tagebuch.

Selbst dort, wo er nur zu sich selbst spricht, wirkt er unsicher – in seinem windschiefen Deutsch geraten ihm die Beteuerungen seiner Lie-be zu schwülstig und auf Luxem-burgisch scheint man sich nicht mit der nötigen Emphase an eine „Heiss­geliebte“ richten zu können. Womöglich hätte der Erzähler den grotesken Selbstmord verhindern können, den Herr Martin nach sieb-zehn Jahren, die er in der Wohnung über seinem Vermieter lebt, im Treppenhaus inszeniert. Doch der Erzähler gibt nichts auf den Lärm („Wat soll scho lass sinn?“), bis es zu spät ist. Das Desinteresse am Schicksal des langjähri­gen Nachbarn gipfelt in der Ungehaltenheit seiner Frau, als es darum geht, die Wohnung zu räumen: „Wat maache mer elo mat deem Krëppeng? Si mer och nach domat gehäit!“ Vorwürfe macht sich niemand.

Die Selbstgerechtigkeit des Erzählers in diesem frühen Text macht nur den Anfang in einer langen Reihe von eher weniger liebenswerten Eigenschaften (der Luxemburger? des Menschen als animal social überhaupt?), mit denen Pol Greisch vor allem seine männlichen Figuren ausstattet. Dabei hat er es besonders auf Doppelmoral und Hypokrisie abgesehen, aber ebenso auf eine gar nicht so latente Fremdenfeindlichkeit, auf Knauserigkeit, Reinlichkeitsfimmel und alle Formen übertriebener Spießigkeit. Als Rahmen für diese unschönen Züge dienen Greisch oft familiäre Kontexte – und auch dort spielen die Männer generell eine eher unrühmliche Rolle.

Der Autor hat ein feines Gespür dafür, was jahrzehntelanges Zusammenleben, was Alter und Gewohnheit einer Ehe oder einer Lebensgemeinschaft antun können; wie man miteinander einsam sein kann, aber ohne einander noch mehr. Die weiblichen Hauptpersonen in „Léift Lina“, „Hi­ren Hipp“ oder der Titelgeschichte, „D’Sonnesäit“, fallen vornehmlich durch die Fürsorge und Aufopferungsbereitschaft auf, mit denen sie sich um Haushalt und Familie kümmern, ohne je mit Anerkennung oder sogar Dank rechnen zu können.

Einige der kauzigen Moserer, mit denen sie ihr Leben teilen, sehen in ihnen nicht viel mehr als kostengünstige Dienstmägde – wie Hilaire in seiner Schwester Lina, die ihm jahrelang den Haushalt geführt hat. Als Lina schwer krank im Krankenhaus liegt, scheut Hilaire die Kosten als auch die Mühen, sich um sie zu kümmern, bandelt dabei aber alsbald mit der neuen Putzhilfe an, als er allein nicht mehr zurechtkommt. Einige sind sich ihrer zwischenmenschlichen Unzulänglichkeiten jedoch wenigstens ein Stück weit bewusst (etwa Misch in „D’Sonnesäit“): Wo er die zur Schau getragene Unzufriedenheit über die Mitmenschen und die innere Unzufriedenheit mit sich selbst in seinen Figuren konfligieren lässt, gelingen Greisch die ergreifendsten Passagen des Buches.

Bemerkenswert an Pol Greischs Erzählstil ist die Unaufdringlichkeit, mit der er die Abgründe jahrelangen Zusammenseins umreißt –, die vielen zum Teil unbewussten Arten, mit denen man den Menschen in seiner nächsten Umgebung wehtun kann und die Hilflosigkeit, wo man es nicht schafft, ihnen seine Zuneigung mitzuteilen. Doch der Pessimismus hat nicht das letzte Wort. Die kurze Skizze „Op der Schläifmillen“ zeigt auf wenigen Seiten ein Ideal, das in den meisten Geschichten aus D’Sonnesäit heimlich mitschwingt: den Zauber einer über Jahre eingeübten Alltagsroutine zwischen zwei Menschen, in der alle Handgriffe aufeinander abgestimmt sind, in der man sich blind aufeinander verlassen kann.

Elisabeth Schmit
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