Kreationismus in der Moral- und Sozialerziehung

Bibelstunden

d'Lëtzebuerger Land vom 23.12.2010

Rechtzeitig zu einem der großen Feste der Christenheit, dem heutigen Weihnachtsfest, erzählt die Zeitschrift des OGB-L-Syndikats Erziehung und Wissenschaft SEW-Journal in ihrer jüngsten Ausgabe eine fromme Geschichte. Sie handelt von den neuen Schulbüchern für den Moral- und Sozialunterricht im dritten Zyklus der Grundschule. Der vom Erziehungsministerium vorgeschriebene Lehrplan legt viel Wert auf die Vorstellung der großen Weltreligionen in diesem als Alternative zum römisch-katholischen Religionsunterricht vorgestellten Unterricht. Was zu der erstaunlichen Verirrung führt, dass die neuen Bücher die Erkenntnisse der Evolutionsgeschichte und verschiedene religiöse Schöpfungsmythen als gleichwertige Beschreibungen der Entstehung des Universums, der Erde und des Lebens darstellen sollen.
Als vor zwei Monaten auf Limpertsberg ein kreationistischer Propagandafilm gezeigt wurde, warnte die hauptstädische LSAP-Sektion besorgt „tous les acteurs publics vis-à-vis de tendances intégristes qui sont ouvertement opposées à un débat scientifique. Nous soulignons avec le Conseil de l’Europe que ‚l’enseignement de l’évolution en tant que théorie scientifique fondamentale est essentiel pour l’avenir de nos sociétés et de nos démocraties‘. Les acquis de la philosophie du siècle des Lumières ne sont jamais définitifs et sont au prix d‘une vigilance continue.“ Allerdings machte die sozialistische Lokalsektion damals den liberalen Bürgermeister der Hauptstadt für den befürchteten Verrat an der Aufklärung verantwortlich. Während für die merkwürdigen Schulbücher eine sozialistische Schulministerin verantwortlich ist, die zufällig sogar der hauptstädtischen LSAP-Sektion angehört. Und als die nationale Schulkommission ein ablehnendes Gutachten über die dem Kreationismus alles andere denn abgeneigten Schulbücher abgab, intervenierte die Ministerin laut SEW-Journal persönlich, damit die Kommission sich aus Rücksicht auf allerlei Sachzwänge mit einigen Änderungen der am anstößigsten empfundenen Stellen zufrieden gab.
Dabei wollte die Ministerin in einem noch immer klerikal beeinflussten Schulsystem nur liberal sein. Klerikal beeinflusst, weil im Zuge mehrerer Koalitionskompromisse zwischen CSV, LSAP und DP sämtliche Schüler dazu gezwungen werden, entweder am katholischen Religionsunterricht oder an der Moral- und Sozialerziehung teilzunehmen. Wobei die Moral- und Sozialerziehung weniger das Ziel verfolgt, den Schülern als Alternative zum Religionsunterricht den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu zeigen, als das Auffangbecken für alle nicht-katholischen Schüler zu sein, also für Angehörige aller anderen hierzulande vertretenen Religionen, Sekten, Aberglauben, Zaubereien und für Nicht-Gläubige. Deshalb behandeln die neuen Schulbücher ethische Fragen fast ausschließlich aus einer religiösen Perspektive und teilen die Menschheit nach der Streichung der „dritten Möglichkeit“ aus dem Stundenplan in gute Gläubige und böse Gottlose auf.
In diesem Zusammenhang verhält sich die Ministerin folglich ganz liberal, wenn die Schulbücher der Moral- und Sozial­erziehung einen breiten Bauchladen darstellen sollen, der Schöpfungsmythen archaischer Agrargesellschaften und die philosophischen, biologischen und physikalischen Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts gleichberechtigt feil bietet. Den Gebrauch der Vernunft als eine Religion unter vielen darzustellen, war schließlich von Anfang an die relativistische Taktik des Erzbistums, um in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft das Überleben seines Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen zu sichern.

Romain Hilgert
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