Leonce und Lena

Georg auf dem Drahtseil

d'Lëtzebuerger Land vom 10.12.2009

Roger Manderscheid, derzeitiger auteur en résidence im Théâtre national du Luxembourg, hat Leonce und Lena des Vormärz-Vertreters Georg Büchner ein neues, ein luxemburgisches Gesicht verpasst. Regisseur Frank Hoffmann hat sich der Neubearbeitung angenommen und am vergangenen Freitag die Premiere der Mise en espace vorgestellt.

Büchners bissige Groteske gilt als dramatische Kritik an den Fürsten der provinziell anmutenden Kleinstaaten des Deutschen Bundes, dem auch Luxemburg angehörte. So legt selbst der König des Landes Popo über die völlige politische Orientierungslosigkeit und Distanz zum Volk Zeugnis ab. Der Erbprinz Leonce, dessen Hochzeit mit der ihm fremden Prinzessin Lena aus Pipi bereits geplant ist, frönt der allgemeinen Langeweile. Adel verpflichtet zur vollkommenen Lethargie.

Im Gegensatz zu Woyzeck und Lenz ist Leonce und Lena nicht dem höchsten Kanon deutscher Literaturgeschichte zuzuordnen und wirkt doch bissiger als so mancher Protestaufruf im Hessischen Landboten. Die Mise en espace als eine Art Zwitter zwischen szenischer Lesung und inszeniertem Schauspiel ist neu und erfrischt stellenweise. Frank Hoffmanns Regie in Zusammenarbeit mit Regieassistentin Anne Simon zeichnen insbesondere zwei Eigenarten aus: Zum einen halten die Darsteller den ausgedruckten Text in den Händen, lesen ab und tragen vor, ohne dabei jedoch Mimik und Gestik außer Acht zu lassen. Während so mancher Hamlet-Darsteller im TNL den Text wohl eher aus Gründen der Überforderung benötigte, verleiht dieses „Requisit“ dem Projekt seinen burlesken Charme. Zum anderen erinnert die Kostümierung von Denise Schumann bisweilen an die Ausstattung nett gemeinter Schulinszenierungen: militärische Uniformen in überzogen wirkender Übergröße, des Königs Krone aus Alufolie.

Das karge Requisit, das aus einem Sofa, einem Stuhl, Tisch, Laptop und künstlicher Grünfläche besteht, stilisiert die Szene zu einem gespielten Dilettantismus. Und es passt, streckenweise. Politischer Nonsens, verquere Liebesschwüre, die fäkalgeografischen Ortsbestimmungen Pipi und Popo sowie minutenlange sprachliche Auswüchse wirken bei Büchner einerseits als Abgesang an die Romantik, andererseits als Protest gegen die absolutistische Riege des Deutschen Bundes. Diese dekonstruktiven Elemente und die bewusst unbeholfen anmutende Inszenierung werden von Manderscheid und Hoffmann verstärkt. So oft diese Mittel die politische Bloßstellung intensivieren, stehen sie stellenweise aber auch für eine ästhetische Naivität, die Bücher nicht gerecht wird.

Hoffmanns Arbeit lässt jedoch unzweifelhaft erkennen, welche kabaretthaften Züge Büchners Vorlage aus dem Vormärz eigentlich trägt. Die Schauspieler bringen dies in ihrer bewusst hektischen Spielweise deutlich zum Ausdruck. Marc Limpach als Valerio überzeugt, Nora Koenig als verträumte Prinzessin, Luc Schiltz als Leonce verstehen ihre Rollen. Anne Simon als Gouvernante der Prinzessin verkörpert souverän die Souveräne im Spiel. Lediglich die Leistung von Yves Bourgnon als Abgeordneter und Vorsitzender des Rats gibt Rätsel auf. Sollte diese Art des Schauspiels ebenfalls beabsichtigt sein, ist hier die Grenze des Akzeptablen überschritten.

Die Frage der Fragen stellt sich jedoch nicht dort, wo Inszenierung oder Urtext zu bewerten sind. Sie betrifft jenes Zwischenelement des ästhetischen Arbeitsprozesses, der Roger Manderscheid zu verdanken ist. Weshalb benötigen wir Leonce und Lena auf Luxemburgisch? Am Textverstehen liegt es sicherlich nicht. Wer das Luxemburgische versteht, ist auch des Deutschen zur Genüge mächtig, und die gekünstelt archaisch anmutenden Urbegriffe wie „fénkeleg“ für „funkelnd“, „affen“ für „offen“ oder „Lidderhanes“ für „Faulpelz“ sind dem Verständnis eh ein Hindernis. Liegt es daran, der ans Kabarett erinnernden Komödie auch ein paar Seitenhiebe auf die großherzogliche Familie verpassen zu können? Wer nicht schon von den 08/15-Sprüchen aus der Revue, dem Cabarenert und ähnlichem genervt war, ist es spätestens hier. Oder macht gerade deshalb eine luxemburgische Fassung des Textes Sinn, weil der sozialgeschichtliche Hintergrund bei Büchner auch die luxemburgische Geschichte betrifft? Ob dies einem tatsächlichen Mehrwert entspricht, ist mehr als fraglich. Das deutsche Original hätte es wohl auch getan.

Claude Reiles
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