Manderscheid, Roger: Der taube Johannes

Alter Meister

d'Lëtzebuerger Land du 17.12.2009

Klar, er kann’s. Er ist klasse. Er hat es einfach drauf. Er ist souverän, überragend, unerreicht. Seit einiger Zeit schon veröffentlicht Roger Manderscheid kurze Texte in handlichem Format und kann sich jedes Mal sicher sein, dass wir ihn selbst dann noch von Herzen lieben werden, wenn er uns die zur Bus- und Bettlektüre fein portionierten literarischen Leckerlis zuwirft. Das tagebuch der einzelheiten zeigt uns den Manderscheid, den wir kennen und verehren: den anarchischen Sprachwitzbold, den alternden Chronisten prägender Kindheitserinnerungen, den das Menschenmögliche stets neu bedenkenden Gesellschaftskritiker.

Wir werden zugeben müssen: „riccardos briefe an angela“ sind so absolut zauberhafte, intime, verrückte, romantische Liebesgedichte, dass man sie – beim gestiefelten katernoster! – sofort auswendig lernen und anthologisieren sollte. Wir werden auch um ein verschmitztes Kichern nicht verlegen sein, wenn wir unter den textes trouvés der „17 kriminalgeschichten“ gleich auf den ersten Blick den fiktionalen Versuch eines Verbrechens ausfindig machen, den der Autor in die Reihe der wirklichen Gräueltaten eingeschummelt hat. An seiner Lobeshymne „für georges christen“ schließlich, diesem friedfertigsten aller starken Männer dieser Welt, und dem verqueren Patriotismus, von dem wir bestimmt auch Rückstände bei uns selbst feststellen müssen, werden wir unsere helle Freude haben („wieviel mal hat das kleine luxemburg die tour de france gewonnen? viermal? fünfmal? und das grosse deutschland? einmal. ich flüstere das nur.“).

Weil uns die nicht einmal neunzig kleinen Seiten nicht genug sein werden, stürzen wir uns anschließend mit Begeisterung, Geheul und Gebell auf die zeitgleich bei Ultimomondo erschienene Neuausgabe von Der taube Johannes, dem ersten Buch Manderscheids, das 1963 zuerst erschien und alsbald in der Versenkung der Unzugänglichkeit verschwand. Die Notiz auf der Rückseite des Büchleins verspricht, hier klängen „schon alle zentralen Themen an, die der Autor in seinen späteren Werken entwickelt hat“. Beim Lesen wird man schnell merken, dass da doch einige Themen lauter anklingen, andere eher verhalten. Man wird sogar merken, dass sich ein Thema wie ein roter Faden durch das Bändchen zieht, nämlich die Reflexion über den Zweiten Weltkrieg und die psychologischen Folgeschäden: die Schuld der Täter, der Mitläufer, der Überlebenden.

Der taube Johannes ist das ehedem vielversprechende Erstlingswerk eines Autors, dessen Schreiben man mittlerweile aus der Perspektive des erfüllten Versprechens betrachten darf. Im direkten Vergleich der beiden Bücher fällt natürlich auf, dass die Sprache des frühen Manderscheid teilweise klobig und unbeholfen wirkt und trotz eines vereinzelt aufblitzenden Sprachgenies längst nicht zur Originalität des Autors von Schacko Klak gefunden hat. Die Notwendigkeit, dieses Werk wieder allgemein zugänglich zu machen, ist vor allem einem literaturwissenschaftlichen Interesse an Manderscheid geschuldet. In dieser Hinsicht hätten Autor und Herausgeber dem geneigten Leser womöglich mehr entgegenkommen können. Wenn man auch das Unwohlsein eines Schriftstellers beim Gedanken verstehen mag, sein Werk selbst zu archivieren oder zu kommentieren, so wäre ein erläutern­des oder irgendwie textkritisches Vorwort sicher nicht überflüssig gewesen. Auch hätte man als Herausgeber erwägen können, die damaligen Buchbesprechungen, die auf der Rückseite des Bändchens zitiert werden, in voller Länge mit abzudrucken.

Bei aller Überlegenheit, die sich Manderscheid in späteren Jahren erschrieben hat, muss man der ersten Veröffentlichung doch einen Vorzug zugute halten, den das tagebuch der einzelheiten vermissen lässt: die inhaltliche Kohärenz. Von dem roten Faden aus Der taube Johannes ist im tagebuch nur noch ein aus vielen bunten Fäden wild zusammengeknotetes Wollknäuel übrig. Wenn Manderscheid uns versichert: „kellmut hohl und manns heiser. das zaren noch weiten.“, werden wir uns selbstverständlich immer noch überlegen, ob wir uns diesen Spruch in Allegra auf das linke Schulterblatt tätowieren lassen sollen. Aber leise, leise wird sich auch ein Unmut in uns regen, dass uns unser Hausgott schon wieder mit einem Sammelsurium aus Textfitzelchen abspeisen will, die er aus irgendwelchen literarischen Mottenkisten hervorgezaubert hat. So sitzen wir hechelnd auf den Hinterläufen und hoffen inständig, dass sich unter dem ganzen Stückwerk bald ein ordentlicher Knochen finden werde.

Elisabeth Schmit
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