Landesplanung im Südwesten der Hauptstadt

Knackpunkt Arbeitsplätze

d'Lëtzebuerger Land vom 02.09.2004

Mehr als sechs Seiten sind ihm im Koalitionsabkommen von CSV und LSAP gewidmet: dem Integrativen Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept (IVL), das noch von der alten Regierung Mitte März vorgestellt worden war und von dem Premier Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation Ende April meinte, an seiner Umsetzung werde sich zeigen, „wéi mer mat eis selwer eens ginn“. Denn sollte, hatte das IVL vorgerechnet, das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren vier Prozent betragen, dann seien bis zum Jahr 2020 insgesamt 395 000 Arbeitsplätze abzusehen. 2002, als die Arbeiten zum IVL begannen, waren es noch 289 000 gewesen.

Fragt sich nur, wo die die zusätzlich 106 000 Arbeitsplätze bereitstellenden Betriebe angesiedelt sein sollen. Am besten in der Südregion, empfiehlt das IVL, also im Umkreis von Esch/Alzette, Differdingen und Düdelingen. Dort, in der „Planungsregion Süden“, ist zurzeit der so genannte Arbeitsplatzbesatz – die Zahl der Arbeitsplätze pro 1 000 Einwohner – mit 380 kleiner als in der „Planungsregion Nord“ (die Kantone Clerf, Vianden), wo er 480 beträgt. Und viel kleiner als in der „Planungsregion Zentrum-Süd“, die sich von Steinfort im Westen bis nach Schüttringen im Osten und von Lorenzweiler im Norden bis nach Frisingen im Süden erstreckt und wo es im Schnitt 1 080 Arbeitsplätze auf 1 000 Einwohner gibt. Nicht zu vergessen die Hauptstadt, die allein 44 Prozent sämtlicher Arbeitsplätze im Lande auf sich vereint.

Mag man auch immer darüber diskutieren können, ob Zukunftsszenarien tatsächlich so eintreten müssen, wie von Prognostikern vorhergesagt, war der Arbeitsplatzzuwachs auch in der Periode abgeschwächten Wirtschaftswachstums ungebrochen: Der Generalinspektion der Sozialversicherungen zufolge ging er nur von 4,4 Prozent im Boomjahr 2000 auf 2,4 Prozent im letzten Jahr zurück. Das Problem „Wohin mit den Betrieben?“ stellt sich also doch. Zumal aus Verkehrssicht – von den 399 000 täglichen grenzüberschreitenden Personenfahrten (Hin- und Rückreise) ins Großherzogtum haben 40 Prozent den Fahrzweck „Arbeit“. Und 120 000 der 399 000 Fahrten enden beziehungsweise beginnen Tag für Tag in Luxemburg-Stadt. 

Bereits seit 1999, als das Programme directeur für die Landesplanung mit seinem Zeihorizont 2020 aufgestellt worden war, ist die Rede davon, schwerpunktmäßig innerhalb der Regionen größere Gemeinden zu „centres d’attractivité“ zu entwickeln. Was nichts anderes heißt, als bestimmten Kommunen ein stärkeres Wachstum zu erlauben, anderen dagegen Beschränkungen aufzuerlegen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte der im CSV-DP-Kabinett für Landesplanung und Gemeindeangelegenheiten zuständige Innenminister Michel Wolter mit mehr oder weniger markigen Worten deutlich gemacht, die Gemeindeautonomie dürfe „keine heilige Kuh“ mehr sein, und Zorn auf sich gezogen. Doch für Wolters Nachfolger Jean-Marie Halsdorf werden die politischen Herausforderungen in der Landes- und Gemeindeplanung weniger darin bestehen, Wege zu finden, um dem Dorf XY die Inbetriebnahme einer kommunalen Aktivitätszone zu verweigern, weil Betriebe besser im nächstgelegenen „centre d’attractivité“ aufgehoben wären. Sondern eher darin, die Hauptstadt und ihre Randgemeinden in ihrem Wachstumseifer zu bremsen.

„Aus Sicht der Raumordnung ist darauf zu achten, dass durch die neuen Vorhaben in Luxemburg-Stadt die Entwicklung der dezentralen Standorte (insbesondere Belval) nicht erschwert oder behindert wird“, schreibt das IVL. „Le gouvernement veillera à ce que l’évolution des trois grands pôles de développement nationaux que sont le Kirchberg, le Sud-Ouest de l’agglomération de la Ville de Luxembourg et Belval-Ouest se fasse de manière complémentaire et non concurrentielle“, haben CSV und LSAP sich in ihrem Koalitionsabkommen vorgenommen, wobei das IVL „orientera les démarches du Gouvernement“.

Das aber müsste Konsequenzen haben für die Bauplanungen und die Erschließungen in der Hauptstadt, in Bartringen, Strassen, Hesperingen, Leudelingen und Roeser. Die Rechnung ist einfach zu machen: Sollten, wie im IVL beschrieben, bis zum Jahr 2020 landesweit 106 000 neue Arbeitsplätze entstehen, dann bliebe für das, was man den „Rest des Landes“ nennen könnte, nicht viel übrig, wenn in Luxemburg-Stadt und seinem „Speck-gürtel“ die Planungen und zum Teil schon begonnenen Erschließungen von Gewerbegebieten so weitergeführt würden, wie sie sich gegenwärtig darstellen. Existierende Schätzungen über Flächen und Arbeitsplatzbesatz bis 2020 sind enorm: Fast zwei Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche in Gasperich/Cloche d’Or, in Leudelingen, Strassen, Bartringen. Allein auf diesen Terrains könnten, rechnet man pro Arbeitsplatz 30 Quadratmeter Bruttogeschossfläche, einmal 58 700 Arbeitsplätze bestehen, schätzte die Gemeinde Luxemburg vor zwei Jahren. Weitere 300 000 Quadratmeter Fläche stehen in der Gemeinde Roeser zur Erschließung an, ohne Arbeitsplatzschätzung allerdings. Konkretere Vorstellungen gibt es über die Entwicklung des Kirchbergs: Rund 36 000 Arbeitsplätze bis zum Jahr 2020. Womit insgesamt wenigstens 95 000 der vom IVL geschätzten 106 000 Jobs da entstehen würden, wo heute schon die stärkste Konzentration herrscht.

Nicht 95 000, sondern nur rund 52 000 sollten es in der Region Zentrum-Süd sein, empfiehlt dagegen das IVL in seinem „Arbeitsplatzszenario“. Wenn der Arbeitsplatzzuwachs zwischen 2002 und 2020 landesweit 37 Prozent betragen würde, dann sollte die Region Zentrum-Süd mit einem Plus von 29 Prozent nur unterdurchschnittlich wachsen; etwas stärker als der Osten mit 27 Prozent, viel schwächer aber als der Süden mit plus 69 Prozent. Denn im Süden sind wegen der Industriebrachen verhältnismäßig mehr Gewerbeflächen als Wohnflächen „mobilisierbar“, weil ausgewiesen und frei von naturschützerischen Restriktionen. Und allein für Belval-West sieht ein Masterplan bis zum Jahr 2009 die Ansiedlung von an die 20 000 Arbeitsplätzen vor. 

Die Region Zentrum-Süd dagegen soll laut IVL das Gros des künftigen Bevölkerungswachstums aufnehmen. Je nachdem, ob auch in Zukunft die Mehrzahl der neuen Arbeitsplätze von Grenzpendlern besetzt oder die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass weitaus mehr „frontaliers“ als heute sich in Luxemburg auch niederlassen, müssten Luxemburg-Stadt und Umland dann um zwischen 20 bis 33 Prozent an Bevölkerung zulegen. Die Einwohnerzahl der Hauptstadt könne dann auf deutlich über 100 000 steigen und ihr „mehr europäisches Gewicht“ verleihen.

Mehr Einwohner und weniger Arbeitsplätze – diese Perspektive kann für die Hauptstadt günstig sein. Nicht nur aus Verkehrssicht, weil sie das Pendleraufkommen zu begrenzen hilft. Sondern weil sie im urbanistischen und sozialen Hinblick Chancen enthält. Erst seit Mitte der Neunzigerjahre steigt die Einwohnerzahl der Hauptstadt wieder leicht an. Zuvor hatte es eine 20 Jahre dauernde stetige Abwanderung in die Randgemeinden und sogar darüber hinaus gegeben: im Kanton Luxemburg-Land wuchs die Bevölkerung zwischen 1981 und 2001 um 34 Prozent, zwölf Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt. Innerhalb von Luxemburg-Stadt legten nur einzelne Quartiers an Bevölkerung zu – Kirchberg, Gasperich, Bonnevoie-Süd, Cents und Beggen, schreibt die Gemeinde in ihrem Stadtentwicklungsbericht 20031, der vor einem Jahr erschien. Nur Bonnevoie-Süd und Limpertsberg sind sehr dicht besiedelt. In anderen Vierteln wurde durch die nach der „Zweckentfremdung von Wohnraum durch gewerbliche Nutzung“ – vor allem in der Oberstadt, aber nicht nur dort – allgemein gestiegenen Grundstückspreise auf zwischen 500 und 1 600 Euro pro Quadratmeter der Zuzug ins Umland begünstigt. Was unter anderem auch dazu führte, dass, regional betrachtet, junge Leute überwiegend nicht in Luxemburg-Stadt wohnen, und nicht einmal mehr in den unmittelbaren Randgemeinden, sondern eher in Koerich, Schuttrange oder Septfontaines. In diesem Radius müsse man die Binnenmigration weg von der Hauptstadt mittlerweile sehen.

Um diesen Trend, der laut Stadtentwicklungsbericht zu einer „zunehmenden Segregation auf Stadtteilebene“ führt, umzukehren, bestehen durchaus Spielräume. Mit 420 Hektar verfügt Luxemburg-Stadt laut IVL über die größten „mobilisierbaren“ Wohnflächen des Landes. Allerdings beträfen Entscheidungen über ein „Weg von der Arbeitsplatzkonzentration, hin zu mehr Einwohnern“ nicht die Hauptstadt allein, sondern die Umlandgemeinden mit ihr. Schon heute könnte man sich aufgrund der Sub-Urbanisierungsprozesse am Rande von Luxemburg-Stadt etwa das Hauptstadtviertel Bonnevoie gemeinsam mit Hesperingen als einen Raum vorstellen, in dem ungefähr so viele Menschen leben wie in Esch/Alzette. Doch während im Landessüden der Druck zur Neuerschließung der Industriebrache Belval zur interkommunalen planerischen Kooperation führte, ist eine solche im Großraum Hauptstadt so gut wie inexistent – sieht man davon ab, dass die Ende Juli vorgestellte erste Fassung eines Masterplans für die Ausgestaltung der Gaspericher Flur nicht nur Gasperich und Cessingen, sondern auch Howald einschließt und eine Zusammenarbeit zwischen Luxemburg-Stadt und Hesperingen begründete. Die von Hauptstadtbürgermeister Paul Helminger vor zwei Jahren vor allem vor dem Hintergrund steigender Verkehrsprobleme angeregte Zusammenarbeit mit zunächst zwölf Umlandgemeinden im Rahmen eines Planungsverbunds „Agglolux“ aber schlief nach ein paar Treffen wieder ein.

Sie wieder zu wecken, ist nun Aufgabe Jean-Marie Halsdorfs – irgendwie. Regierungsprogramm ist das auch, nicht nur wollen CSV und LSAP ein „concept de développement intégré pour l’agglomération urbaine du Sud-Ouest de la Ville de Luxembourg“ als Pilotprojekt vorantreiben, sondern „en priorité“ Regionalpläne für die Regionen Süden und Zentrum-Süden ausarbeiten lassen. Diese werden Gesetzeskraft erhalten, und jeder kommunale Bebauungsplan muss sich ihnen unterordnen. Angesichts der lokalen Arbeitsplatzszenarien fragt sich freilich, ob die wirtschaftlich stärksten Kommunen im Zentrum mit ihren Planungen nicht schon für vollendete Tatsachen gesorgt haben. Sollte jedoch tatsächlich das Gros der Wirtschaftsaktivität auf Hauptstadt und Umland konzentriert bleiben, dann wäre Landesplanung in Luxemburg nicht mehr als nur ein schöner Begriff.

[lt]p[gt]1[lt]span style="font-style: italic;"[gt]Stadtentwicklungsbericht 2003[lt]/span[gt] der Gemeinde Luxemburg[lt]/p[gt]

Peter Feist
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