Tödlich heißer Sommer 2003

Hitzschlag

d'Lëtzebuerger Land du 17.05.2007

Am 23. März warteten vor allem französische Medien mit einer Nachricht auf, die überraschend klang. Luxemburg sei neben Spanien am stärksten von der Hitzewelle des Sommers 2003 betroffen gewesen, mit 14 Prozent mehr Todesfällen als zuvor, hieß es von Le Monde bis hin zu Radio France Info von einer Konferenz der Weltgesundheitsorganisation in Bonn. Der Figaro verarbeitete die News sogar zu einer kleinen Hitparade: „L’Espagne et le Luxembourg ont été les plus touchés, avant la France et l’Italie.“

Das besondere Interesse aus Frankreich war verständlich. Von dort waren im heißen Sommer 2003 Fernsehbilder von überfüllten Notaufnahmen um die Welt gegangen, oder vom internationalen Markt in Rungis in der Pariser Banlieue, wo eine Kühlhalle als Zwischenlager für hunderte Hitzetote dienen musste, die auf ihre Identifikation warteten. Auf 15 000 wurde die Zahl der Toten aufgrund der canicule in Frankreich geschätzt. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, das öffentliche Gesundheitssystem habe „dysfunktioniert“, die gesamte Regierung Raffarin geriet unter Beschuss der sozialistischen Opposition. Und nun sollte Luxemburg noch stärker betroffen gewesen sein?

Die Erwiderung aus der Villa Louvigny folgte umgehend. Luxemburg sei ein kleines Land, das müsse man bedenken und bei solchen Statistiken das Gesetz der kleinen Zahlen beachten. Nicht um 14,3 Prozent, sondern nur um 6,4 Prozent habe die Zahl der Todesfälle des Jahres 2003 über dem Mittel der Jahre 1998 bis 2005 gelegen, erklärte Danielle Hansen-Koenig, die Chefin der Direction de la Santé im Gesundheitsministerium, dem Wort und der Voix du Luxembourg (Ausgaben vom 24.03.2007). Niemand aus Luxemburg habe die Studie gesehen, aus der die französische Presse zitiert hatte. „Nous n’avons eu l’occasion ni de voir, ni de valider et encore moins de trouver des explications“,erklärte Hansen-Koenig der Voix und wünschte sich, mit den Autoren der Studie zu diskutieren.

Aber sechs Wochen später hat sich bei Jean-Marie Robine, dem Haupt-Autor des Papiers, noch immer niemand aus Luxemburg gemeldet. Robine leitet das Laboratoire démographie et santé am französischen Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm) und ist federführend beim 2003 Heat Wave Project der Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission. 

Das Heat Wave Project dauert noch bis Ende 2007 und soll bis in Einzelheiten klären, welche Gruppen der EU-Bevölkerung im heißen Sommer 2003 welchen Belastungen ausgesetzt waren. In Erwartung weiteren Klimawandels soll es in Abstimmung mit der  Weltgesundheitsorganisation Vorschläge für ein Frühwarnsystem machen und die Reaktionsfähigkeit öffentlicher Gesundheitssysteme auf extreme Witterungsereignisse verbessern helfen. Zu der Bonner Konferenz hatte Robine eingeladen und dort jenen Report on excess mortality in Europe during summer 2003 vorgestellt, der für so viel Aufsehen sorgte. „Ich bin zu Gesprächen gerne bereit, habe aber bisher keinerlei Reaktion der Luxemburger Gesundheitsbehörden erhalten“, erklärte Robine dem Land Ende letzter Woche auf Nachfrage. Auch die Datenbasis, die er und seine Mitarbeiter verwendeten, sei nicht angefochten worden. Was jedoch nicht überraschend sei: „Wir haben aus jedem Mitgliedstaat die Angaben benutzt, die auch ans EU-Statistikamt Eurostat geschickt werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendwelche Differenzen mit den Zahlen aus Luxemburg gegeben hätte.“

Also doch ein nachträglicher Skandal für den damaligen Gesundheitsminister Carlo Wagner? Zunächst wohl eher ein Hinweis auf ein Versäumnis der Direction de la Santé – nicht 2003, sondern heutzutage. Immerhin soll am 7. Juni auf Initiative der Grünen der Gesundheitsausschuss der Abgeordnetenkammer das Thema debattieren. Auf einer Ausschusssitzung in der letztenWoche kam es schon kurz zur Sprache, und Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo wiederholte dort die Ansicht der Gesundheitsdirektion, dass Robine sich geirrt habe.

Aber so einfach ist es womöglich doch nicht: Seit Ende letzter Woche ist über den Web-Server der EU-Kommission der Report on excess mortality in Europe during summer 2003 frei zugänglich.1 Eine Erklärung für die unterschiedlichen Angaben aus dem Report zum einen und aus dem Munde der Leiterin der Direction de la Santé Ende März gegenüber der Presse zum anderen ergibt sich schon aus der Betrachtungsweise: Danielle Hansen-Koenig hatte jeweils die Todesfallzahlen ganzer Jahre miteinander verglichen und gegenüber der Voix du Luxembourg die von 2003 mit denen einer „période de référence allant de 1998 à 2005“ in Beziehung gesetzt. Die Gruppe um Robine dagegen verglich den Zeitraum von Juni bis September 2003 mit dem einer Referenzperiode zwischen 1998 und 2002. Sie ermittelte dazu für jeden Mitgliedstaat die Todesfallzahlen für jeden einzelnen Tag des Jahres 2003 und der Referenzperiode. Aus dieser vergleichsweise mikroskopischen Analyse ergaben sich für den Sommer 2003 europaweit vier Mortalitäts-Spitzen – wo doch normalerweise in den Sommermonaten die Todesfallkurven in allen Ländern ausgesprochen „flach“ seien, so Robine. Die erste Spitze war im Juni vor allem in Italien, Kroatien und Spanien aufgetreten, die zweite Mitte Juli 2003 in so gut wie ganz Westeuropa. Die dritte war Mitte August am ausgeprägtesten in Frankreich, Portugal, Italien und Luxemburg, sehr deutlich nachweisbar aber auch in Deutschland, Belgien, der Schweiz und Teilen von England. Die vierte schließlich betraf vor allem Frankreich, Italien und Spanien im September.

„The countries most affected by this excess summer mortality were Luxembourg, Spain, France and Italy, where mortality increased by 14,3%, 13,7%, 11,8% and 11,6% respectively“, steht in dem Bericht in der Tat zu lesen (S. 10). Aufgeschlüsselt auf die Mortalitäts-Spitzen wird das Bild für Luxemburg zum Teil noch dramatischer. Im August 2003 lag die Mortalität hierzulande um 25 Prozent über der des Vergleichszeitraums 1998 bis 2002. Allen Bedenken über die statistische Gültigkeit dieses „August- Überschusses“ kommt der Bericht mit dem Hinweis zuvor: „In less populated countries the numbers are lower, but excess mortality canbe relatively very significant as in Luxembourg where 73 additional deaths increased mortality by 25%“ (S. 10).

Für Jean-Marie Robine liegen die wichtigsten Erkenntnisse, die das Heat Wave Project bisher gewann, allerdings nicht im nationalen, sondern im regionalen Vergleich. NUTS heißen die von Eurostat eingeführten Statistikregionen, und insgesamt 250 solcher NUTS-Regionen liegen dem Report zugrunde. Luxemburg ist als kleines Land eine NUTS-Region für sich. Für den besonders „tödlichen“ Abschnitt des Sommers 2003, die erste Augusthälfte, hätten sich besonders hohe Mortalitäten entlang einer Achse ergeben, die von der Algarve in Portugal bis nach Westfalen in Deutschland reichte. Luxemburg sei davon ein Teil gewesen – aber nicht etwa der mit den höchsten Mortalitätszuwächsen. Die wurden mit zwischen plus 65 und plus 125 Prozent in Gebieten Portugals und Frankreichs ermittelt; vor allem in der Île de France und im Centre. In Luxemburg lag der Zuwachs bei 41 Prozent. Regional besonders hohe Werte ergaben sich jedoch auch in Teilen Walloniens, wie um Namur oder Hainaut (S. 13). „Was das für Ursachen haben könnte, wissen wir noch nicht“, sagt Jean-Marie Robine. Die naheliegende Frage nach den Witterungsverhältnissen vor Ort hätte bei den Betrachtungen bisher noch keine Rolle gespielt. Vielleicht war es in Luxemburg, aber auch in Namur außergewöhnlich heiß gewesen? – Wer weiß.

Aber noch ein Aspekt ist klärungsbedürftig: Im September 2003 lag laut dem Report in Luxemburg die Mortalität um zwölf Prozent über der von 1998 bis 2002 (S. 11). Robine schließt nicht aus, dass es auch in Luxemburg gab, was in Frankreich oder Italien in weitaus größerem Ausmaß stattfand: eine „kleine Krise“, die unbemerkt blieb, nachdem die größte Hitze schon vorüber war.

Vor allem diese Annahme deutet an, wie dringend geboten es wäre, dass die Gesundheitsdirektion mit dem Inserm und Jean-Marie Robine spricht: Ließe sich ausreichende Evidenz finden für eine solche „kleine Krise“ nach der großen Hitze, könnte eventuell ein Update des Plan d’action en cas de grande chaleur fällig sein, den der Gesundheitsminister Mitte Juli letzten Jahres in Kraft setzte. Abhängig vom Temperaturverlauf  über mehrere Tage werden unterschiedliche Alarmschwellen ausgelöst. Allein lebende alte und gebrechliche Menschen werden von kommunalen Services sociaux de proximité aufgesucht und betreut. Aber womöglich sind die Parameter, nach denen der Aktionsplan funktioniert, ja nicht optimal? Und heiße Tage, das lehrt die jüngste Erfahrung, können sich bereits kurz nach Ende des kalendarischen Winters einstellen ...

Peter Feist
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