Leitartikel

Niedrige Wahlbeteiligung

d'Lëtzebuerger Land vom 30.06.2017

In drei Monaten finden Gemeindewahlen statt. Ausländische Staatsbürger haben noch zwei Wochen Zeit, um sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Die Prozedur ist einfacher geworden: Wenn man seit mindestens fünf Jahren im Land wohnt, genügt es, sich mit seinem Ausweis bei der Gemeindeverwaltung zu melden. Trotzdem dürfte wiederum bloß eine Minderheit von ihrem Recht Gebrauch machen.

In den größeren Gemeinden werben die Schöffenräte mit verlängerten Öffnungszeiten und Plakaten für die Eintragung in die Wählerlisten. Ausländerorganisationen und Oppositionsparteien werfen ihnen vor, nicht noch einige Rundbriefe und Flugzettel mehr zu verschicken, um einige Hartnäckige aus dem Haus zu locken. Vielleicht wollen die Parteien so zeigen, wie wichtig Wahlen genommen gehören, weil sie schließlich ihre Zweckbestimmung sind. Vielleicht wollen sie auch den schon eingeschriebenen Ausländern zeigen, wie wichtig sie deren spezifischen Anliegen nicht nur als Gemeindebürger, sondern auch als Ausländer nehmen.

Vielleicht wollen die Parteien auch irgendjemand die Verantwortung für die niedrige Wahlbeteilung zuschieben, um zu verhindern, dass plötzlich die Wahlprozedur in Frage gestellt wird. Denn in einem Land, in dem Wahlzwang herrscht, wäre es normal, dass jemand, der von Lissabon nach Rümelingen zieht, ebenso automatisch in die Rümelinger Wählerliste eingetragen wird und wählen muss wie jemand, der von Vianden nach Rümelingen zieht. Weil es bei Gemeindewahlen gar nicht um die natio­nale Souveränität, sondern um Bürgersteige und Spielplätze geht.

Aber zwei Jahre nachdem eine große Mehrheit der Luxemburger Wahlberechtigten das legislative Ausländerwahlrecht in einem Referendum abgelehnt hatte, ist weitgehend vergessen, mit welchen Verrenkungen das kommunale Ausländerwahlrecht vor über 20 Jahren eingeführt wurde. Mit welchen Argumenten CSV und LSAP extravagante Ausnahmen zum Maastrichter Vertrag ausgehandelt hatten, zu denen die bis heute fortbestehenden Einschreibeprozeduren und Aufenthaltsfristen gehören, und wie die sonst so atlantische und europäische DP in der Opposition gezögert hatte, den Vertrag mit seinem Ausländerwahlrecht zu ratifizieren.

Von heute aus betrachtet, kann man sich fragen, wie es überhaupt möglich war, dass das kommunale Ausländerwahlrecht 1995 eingeführt werden konnte, da das legislative Ausländerwahlrecht 30 Jahre später verhindert wurde. Die Antworten sind simpel: Weil Regierung und Parlament seinerzeit durch den Maastrichter Vertrag gezwungen wurden, das Wahlrecht zu ändern, während es 2013 bloß um die spontane Idee der Handelskammer und des LSAP-Spitzenkandidaten ging. Weil Regierung und Parlament 1995 nicht auf den Maastrichter Vertrag verzichten wollten und sich deshalb hüteten, wie 2015, eine Volksbefragung zu veranstalten. Und weil die CSV 1995 in der Regierung war und pflichtbewusst für das Ausländerwahlrecht warb, während sie 2015 in der Opposition war und durch ihren Ausbruch aus dem Parteienkonsens den bis dahin weitgehend tabuisierten Protektionismus salonfähig machte.

Dass trotzdem eine Mehrheit der Ausländer heute auf eine Teilnahme an den Gemeindewahlen verzichtet, hat wenig mit mangelhaften Sensibilisierungskampagnen zu tun. Sie stammen vielmehr meist aus Ländern, in denen kein Wahlzwang herrscht und die Wahlbeteiligung entsprechend niedrig ist: Bei den Parlamentswahlen am 18. Juni in Frankreich lag die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Und sie hegen den Verdacht, dass eine Stimmabgabe kaum Probleme löst: Wahlberechtigte Eingeborene suchen ebenso lang nach einer Wohnung in ihrer Gemeinde wie Zugezogene.

Romain Hilgert
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