Psychiatriereform

Auf Bewährung

d'Lëtzebuerger Land vom 05.04.2007

Das kleine Männchen gräbt unermüdlich. Hektisch stößt die spitze Schaufel in die Erde, so als gälte es, verlorene Zeit wettzumachen. Die Figur befindet sich auf der Internetseite des Neuropsychiatrischen Krankenhauses in Ettelbrück (CHNP). "En cours d’élaboration" steht dort, damit ist die Situation vor Ort nach wie vor treffend beschrieben.

Seit der Veröffentlichung des Rössler-Berichts im Juli 2005 ist zwar einiges passiert, doch ein Ende der Baustellen in Luxemburgs psychiatrischer Versorgung ist noch lange nicht in Sicht. Am Donnerstag stellte CHNP-Interim-Direktor Marc Graas, der den im vergangenen Jahr verstorbenen Jean-Marie Spautz kurzfristig ersetzt hat, den neuen Entwicklungsplan für das rund 600 Angestellte zählende CHNP vor. Das Krankenhaus, mit über 1 000 Patienten in den 70-er Jahren die einzige Verwahranstalt für psychisch Kranke im Land, steht im Mittelpunkt der Umstrukturierungsempfehlungen des Schweizer Psychiatrieexperten Wulf Rössler, die dieser in seinem Lagebericht der LSAP-CSV-Regierung mit auf den Weg gegeben hatte. Nun, fast zwei Jahre später, liegt der Strategieplan für das CHNP auf dem Tisch.

Die großen Leitlinien sind dieselben geblieben, es sind deren fünf. An erster Stelle steht weiterhin die Enthospitalisierung, Credo der Psychiatriereform insgesamt. Sozusagen als historisches Erbe leben noch immer rund 80 Patienten im CHNP, ohne dass es dafür eine medizinische Rechtfertigung gäbe. „Das ist ein Skandal, und wir versuchen, für diese Menschen so schnell wie möglich eine Lösung zu finden“, sagt Marc Graas selbstkritisch. Aber dafür müssten erst einmal geeignete Strukturen her – und die gibt es bislang nicht. Bei den Betroffenen handelt es sich um chronisch Erkrankte, denen ein Umzug schwerlich zuzumuten ist. Sie sollen in spezialisierten Langzeitwohnheimen mit jeweils 12 bis 15 Betten unterkommen, in denen sie von Fachkräften betreut und behandelt würden.

Unter dem Stichwort Dezentralisierung sind unter Punkt zwei im Plan außerdem vier auf die Regionen Norden, Süden,Osten und Zentrum verteilte Foyers médicaux – Übergangsheime – vorgesehen. Dort sollen Kranke, die nicht (mehr) im Krankenhaus untergebracht werden müssen, aber psychisch noch nicht genügend stabilisiert sind, auf ihr Leben nach der Krankheit vorbereitet werden. In einem weiteren Schritt könnten sie in betreute Wohnungen überführt oder nach Hause entlassen werden; der ambulante Dienst soll ihnen, so weit realisierbar, helfen, ein „normales Leben“ in vertrauter Umgebung zu führen.

Des Weiteren ist vorgesehen, die bestehenden Therapiezentren in Manternach (Drogen) und Useldingen (Alkohol) auf 40 Betten beziehungsweise auf 55 Betten auszubauen, sie zu modernisieren – und durch Nachsorge- und Reintegrationsangebote zu ergänzen. „Insbesondere bei Drogenabhängigen fehlen uns im Low- Level-Bereich entsprechende Angebote“, so Graas. Eine Tages- und eine Nachtklinik soll überdies Suchtkranke darin unterstützen, trotz Behandlung so wenig wie möglich aus ihrem bisherigenUmfeld herausgerissen zu werden. Auch für schwerwiegendere Fälle, für die ein längerer Entzug und eine intensivere Betreuung notwendig sind, soll am Ende die soziale Reintegration das oberste Ziel sein und eben nicht länger die Verwahrung.

Somit wäre eine zentrale Forderung von Wulf Rössler erfüllt: Der Ausbau vorhandener Infrastrukturen zur Rehabilitation von Suchtkranken ebenso wie von schwer psychisch Kranken war für den Psychiatrieprofessor einer der Kernbereiche, in denen das CHNP „schon Kompetenzen innehat und diese noch weiter ausdehnen kann“.

So weit, so gut. Seitdem die Akutstationen in vier Regionalkrankenhäusern in Luxemburg-Stadt, Esch und Ettelbrück die alleinige Hoheit haben, zwangsweise eingewiesene Patienten aufzunehmen, ist Luxemburgs Psychiatrie auf dem besten Wege hin zu einem zeitgemäßen Versorgungsangebot, das den Kranken weitgehend in seiner vertrauten Umgebung belässt und den längerfristigen Klinikaufenthalt nur als ultima ratio ansieht – wenn alle anderen Hilfsangebote versagt haben. Doch weil die Politik die Akutbetten von Anfang an zu knapp kalkuliert hat, werden in den Spitälern noch immer nur die dringendsten Fälle behandelt; derzeit beträgt die Wartezeit für einen Therapieplatz durchschnittlich vier bis fünf Monate.

Um diese Versorgungslücke zu schließen (d’Land vom 1. Juli 2005), soll das CHNP neben der Rehabilitation von schweren Fällen, die es weiterhin von den Akutkrankenhäusern überwiesen bekäme, seine Klinikstruktur behalten: Anstelle des Hochhauses soll eine kleine Klinik von etwa 40 Betten entstehen, mit einer geschlossenen und einer offenen Abteilung. „Wir brauchen beides, um einen sanften Übergang zu ermöglichen“, betont Marc Graas. Im Prinzip hätte der Koloss von einst, neben den spezialisierten Behandlungszentren für Suchtkranke und der neuen geschlossenen Abteilung für Jugendliche, somit weiterhin eine ganze Palette von mehr oder weniger intensiven Diensten im Angebot, die sich auf jedes Glied in der Pflegekette bezögen: der ambulanten, der semistationären und der stationären.

Genau das aber betrachten die außerklinischen Anbieter mit Argwohn. Auch wenn sie bei der Planung der psychiatrischen Gesundheitspolitik nach jahrzehntelanger Zwangsabwesenheit neuerdings mit am Tisch sitzen und sie die Entwicklungspläne des CHNP prinzipiell gutheißen, ganz wohl ist ihnen dabei nicht. „Mir wäre lieber gewesen, wenn das alte CHNP komplett abgebaut worden wäre“, sagt Marc Gleis, Präsident der EGSP (Entente des gestionnaires des services de psychiatrie extra-hospitalière). Auf der Gesundheitskonferenz Anfang Januar in Mondorf hatte der Psychiater zum wiederholten Male eine Schlüsselfunktion der außerklinischen Träger für eine zeitgemäße, patientengerechte Versorgung angemahnt. Andere, wie sein Kollege Roger Zanter von Liewen Dobaussen, drücken sich diplomatischer aus, sehen aber ebenfalls noch „erheblichen Abstimmungsbedarf“.

Dass es sich bei der Kritik nicht um eine Neuauflage überholten Konkurrenzdenkens aus vergangenen Zeiten handelt, verdeutlicht ein Beispiel. Im außerstationären Bereich baut der psychiatrische Betreuungsdienst Liewen Dobaussen derzeit eine Tagesstruktur in Ettelbrück auf und sucht dafür unter anderem einen (sozial-) psychiatrischen Facharzt. Das Zentrum sei ein Schritt auf dem Weg zu einem „sozialpsychiatrischen Angebot für den Norden“ heißt es in der Stellenbeschreibung. Das Script, das CHNP-Interimdirektor Marc Graas im Januar präsentiert hatte, sah ebenfalls „diverse Tageskliniken“ vor. Der Rössler-Bericht spricht von einem Standbein in einer Gemeindepsychiatrie im Norden. Wie aber passt das zusammen? Augenblicklich ist immer noch nicht klar, wie stark der außerstationäre Bereich gegenüber dem stationären wachsen soll – und wer welches Angebot schlussendlich stellen wird.

Für Marc Gleis liegt die Erklärung für die fehlenden Trennschärfen auf der Hand. Die Reform sei von der Politik „von Anfang an zu sehr von den klinischen Strukturen ausgehend gedacht worden“. Statt um das beste und modernste Angebot für den Patienten sei es vielmehr darum gegangen, „das Personal des CHNP unterzubringen“, so sein düsterer Verdacht. Das aber stünde im Gegensatz zu dem Hauptproblem der gesamten Luxemburger Gesundheitsversorgung, das der Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo im Gesprächmit dem Land (24.09.2004) selbst diagnostiziert hatte: „dass man sich zu sehr auf Infrastrukturen fixiert hat“.

Andrerseits gibt es gewisse Realitäten, die die Politik wahrnehmen und für die sie – Schritt für Schritt – Lösungen finden muss. Die 600 Mitarbeiter des drastisch abgebauten CHNP, darunter etwa die Hälfte mit Staatsbeamtenstatut, sind nun einmal da und lassen sich nicht ohne weiteres abbauen. Das wäre angesichts der neuen Aufgaben, welche auf die Psychiatrie zukommen, auch nicht sinnvoll. Sie zu den freien Trägernzu delegieren, wie ursprünglich geplant, klappt ebenfalls nicht. Das haben die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre gezeigt. Damit die CHNP-Mitarbeiter nicht in kleineren, dezentralen Strukturen auf gewohnte Weise weiterarbeiten, sondern der angekündigte Mentalitätswandel im Umgang mit den Patienten tatsächlich stattfindet, ist eine kohärente Weiterbildung Voraussetzung. Bisher fehlt ein entsprechendes Programm. Das CHNP hat deshalb die Stelle eines „Gestionnaire de la formation continue à mi-temps“ ausgeschrieben, neben drei weiteren: Gesucht werden überdies ein Facharzt, ein Verantwortlicher für Qualitätskontrolle und, last but not least, ein neuer Direktor.

Aus Pietätsgründen sagt es niemand laut, aber die Klärung der Führungsfrage ist für die zukünftige Entwicklung des CHNP kruzial. Dass es überhaupt so lange gedauert hat, um ein einigermaßen belastbares Entwicklungsszenario auf die Beine zu stellen, hat zuvorderst mit gravierender Führungsschwäche zu tun: intern im Ettelbrücker Krankenhaus, aber auch extern im Gesundheitsministerium.

Es ist ein Verdienst von Minister Di Bartolomeo, in relativ kurzer Zeit den Austausch zwischen Ministerium, Kliniken und den freien Trägern auf eine neue, professionellere Basis gestellt zu haben. Und es war ein kluger Schachzug, mit Marc Graas einen der vehementesten Kritiker einer zentralistischen Verwahr-Psychiatrie an die Spitze der Reform des CHNP zu stellen. So dauert es vielleicht etwas länger, als es manch einer sich wünschen mag, am Ende könnten alle profitieren: die Patienten, weil sie in Zukunft ein breiter gefächertes Versorgungsangebot in Anspruch nehmen können, das CHNP, weil es seine Kernkompetenzen behalten und ausbauen kann, und die Träger der freien Dienste, weil ihnen ohnehin die Zukunft gehört.

Dank der Einigung zwischen Regierung und Krankenkassen, dass letztere sich ab Januar 2008 an den Kosten für die außerstationären Dienste beteiligen, hat sich insbesondere deren finanzieller Handlungsspielraum enorm erweitert. Die Details über die Tarifstruktur müssen noch ausgehandelt werden, das soll bis Herbst geschehen, doch das wichtigste Ziel ist für Roger Consbruck aus dem Gesundheitsministeriumschon erreicht: „Wir haben jetzt die nötige Flexibilität, um den im Rössler-Bericht vorgesehenen raschen Ausbau der außerstationären Angebote vorantreiben zu können“, freut sich der für den Spitalplan und die Psychiatriereform

zuständige Beamte

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Rund 130 Wohnplätze gibt es derzeit, laut Rössler müsste sich diese Zahl in den kommenden Jahren verdreifachen. Der verhandelbare Kompromiss liegt im Moment bei rund 200 Plätzen. Eine Lösung wurde auch beim Streitpunkt der Beratungszentren gefunden, die das CHNP in einer früheren Version des Planes vorgeschlagen hatten, die aber auch die freien Träger für sich beanspruchten. Dank eines Machtworts des Ministers wird die Beratung nun den außerklinischen Diensten zufallen.

Bleibt ein Punkt, der im Rössler-Bericht groß geschrieben wird, eigentlich als zukünftiger Tätigkeitsfeld dem CHNP zugedacht war – und in den bisherigen Diskussionen so gut wie gar nicht auftaucht: die Prävention von psychischen Erkrankungen. Dass hier ein riesiger Nachholbedarf besteht, hat die im November veröffentlichteCarte sanitaire festgestellt und durch die erschreckend hohe Zahl an Selbsttötungen im Großherzogtum untermauert. Der Minister selbst hatte bei Amtsantritt einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsversorgung angekündigt, in dessen Logik „an erster Stelle Maßnahmen zur Förderung gesunder Lebensweise und Prävention“ stehen sollten. Noch ein Versprechen mehr, das es im psychiatrischen Bereich einzulösen gilt.

Ines Kurschat
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