Zahnsersatz

Zahn um Zahn

d'Lëtzebuerger Land du 12.11.2009

Die Ankündigung wurde vor drei Wochen nach einer außerordentlichen Vollversammlung der Caisse médico-chirurgicale mutualiste gemacht: Wer ihr angehört, könne ab Anfang kommenden Jahres das neue Leistungspaket Denta [&] Opti-plus kaufen. Bei Zahn- und Zahnersatzbehandlungen würden dann bis zu 80 Prozent der Kosten übernommen, die nach den Rückzahlungen durch die reguläre Krankenversicherung sowie das allgemeine Regime der CMCM noch verbleiben. Für Brillengläser und Kontaktlinsen zahle die CMCM ebenfalls zu, und sie beteilige sich auch an den Kosten für Laser-Chirurgie zur Korrektur von Sehfehlern.

Dass, wie die CMCM erklärt, sie von ihren Mitgliedern immer häufiger gefragt worden sei, „etwas zu machen“ bei Optiker- und Zahnleistungen, leuchtet ein: In den beiden Bereichen ist die Selbstbeteiligung der Patienten besonders groß. Zu den Optikerleistungen dürften sie 2008 an die 70 Prozent zugezahlt haben, schätzt die nationale Gesundheitskasse CNS, zu Zahnarzthonoraren 44 Prozent. Dagegen betrug der Eigenanteil an allen anderen Arzthonoraren außerhalb der Spitäler im Schnitt 8,6 Prozent und an den Medikamentenkosten 15,2 Prozent. Kein Wunder, dass Streits um die Rückerstattung von im EU-Ausland erworbenen Brillen und Zahnersatzleistungen es waren, die die damalige Krankenkassenunion UCM in den Neunzigerjahren im legendären Kohll-Decker-Prozess bis vor den Europäischen Gerichtshof führten.

Das neue Angebot der CMCM, für Zahnarzthonorar-Rückerstattungen zumal, wird jedoch zu einer Zeit lanciert, als es das Versprechen: „La prise en charge de certains soins dentaires sera améliorée tout en veillant à améliorer la transparence en faveur des patients dans ce domaine“, bis in das Kapitel zur Sozialversicherung im Koalitionsvertrag der neu-alten Regierung geschafft hat. Vor fünf Jahren musste Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) noch für sich allein ankündigen, dafür sorgen zu wollen, dass die Krankenkassen nicht länger „ihre Rückerstattungsregeln an Standards binden, die veraltet sind“ (d’Land, 24.09.2004). 

Kann man davon ausgehen, dass die Rückerstattung von Zahnarztleistungen durch die Sozialversicherung womöglich doch nicht reformiert wird? – Denkbar ist es. Schließlich ist die „Caisse médico“, wie der Volksmund sie abgekürzt nennt, als „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“ dem Sozialminister unterstellt, und wenn Denta [&] Optiplus die CNS überrascht hat, dann kaum den Minister. Dazu passt, dass aus sehr gut informierten Kreisen verlautet, Di Bartolomeo habe mit den Zahnärzten im Ärzteverband AMMD schon vereinbart, in der laufenden Legislaturperiode nicht an ihre Tarifnomenklatur zu rühren. 

Daran denkt man derzeit auch bei der CNS nicht: Bereits kurz nach der Jahrtausendwende und noch unter DP-Sozialminister Carlo Wagner hatte die damalige UCM sich intern eine Diskussionsbasis geben wollen, um mit dem Ärzteverband über Zahnarztleistungen verhandeln zu können. Die Lage ist komplex, denn das Sozialversicherungsgesetzbuch sieht in Artikel 66 vor, dass ein Zahnarzt für bestimmte Leistungen dem Patienten einen Kostenvoranschlag für die Kasse ausstellen muss, die Preise aber frei ansetzen kann. Das Prinzip dieser „dépassements sur dévis“ ist Jahrzehnte alt und eine Einkommensquelle für den Zahnarzt.Andererseits aber enthalten die dépassements auch Preisunterschiede, die etwa bei Zahnersatz schon davon abhängen, welcher Typ von Prothese gewählt wird und welche Materialien diese enthalten soll.

Differenzierte Tarife mit der AMMD aushandeln, um einerseits für Transparenz zu sorgen, andererseits die Preisfreigabe zurücknehmen zu können, wollte die UCM zu der Zeit, als der Oppositionsabgeordnete Mars Di Bartolomeo Minister Carlo Wagner zum Handeln drängte, genauso wie eine Legislaturperiode später, als Wagner von der Opposi-tionsbank aus seinen Nachfolger Di Bartolomeo immer mal wieder fragte, wie er denn mit den neuen Regeln zur Erstattung von Zahnarztleistungen voran komme. Damit verbunden wäre allerdings nicht nur eine politische Auseinandersetzung mit der Zahnärzteschaft. 

„Dépassement sur dévis“ im Sinne des Gesetzes bedeutet stets „dépassant l’utile et le nécessaire“. Das Problem ist nur, dass der derzeitige Tarifkatalog als die Zahnersatzleistung, die so gut wie vollständig von der CNS rückerstattet wird und damit den Maßstab für das „Nützliche und Notwendige“ bildet, lediglich die guten alten herausnehmbaren „dritten Zähne“ vorsieht. Eine „soziale“ Zahnersatzleistung, die einerseits für jeden erschwinglich ist, andererseits eher dem Stand des 21. Jahrhunderts entspricht, wäre vor allem im Sinne der Gewerkschaftsvertreter im Vorstand der CNS. 

Doch als man vor sechs Jahren einen Experten von der französischen Caisse nationale d’assurance maladie mit einer Expertise über das Luxemburger Gefüge aus Zahnarztleistungen und ihrer Tarifierung beauftragte, riet dieser von punktuellen Änderungen ab und schlug ein ganz neues System von Behandlungsakten, ihrer Erfassung und  Tarifierung vor. Der Entwurf liegt seit fast zwei Jahren in einer Schublade der CNS, die darauf wartet, dass der Minister entscheidet, was er damit zu tun gedenkt. Denn das neue System würde voraussichtlich auch teurer als das derzeitige, wie Di Bartolomeo Wagner im April vergangenen Jahres wissen ließ, als der mal wieder anfragte.

Angesichts dieser eigentlich wenig überraschenden Aussichten und noch dazu vor dem Hintergrund des immensen Finanzdrucks, unter dem die CNS zurzeit steht, könnte es einen guten Eindruck machen, wenn man darauf verweisen kann, dass nunmehr in der Solidargemeinschaft der 280 000 Mitglieder der Caisse médico etwas möglich wird, worauf die große Gemeinschaft aus den 330 000 CNS-Versicherten, dem Patronat und dem Staat nicht so einfach festgelegt werden kann. Selbst die verbesserten Zuzahlungen für Kinder-Zahnspangen, die der Minister am 1. Juli 2008 gegenüber dem Tageblatt in Aussicht stellte, gibt es nicht von der CNS, sondern für die auf das neue CMCM-Paket Abonnierten. Zwar gelten auch für die Leistungen von Denta [&] Optiplus Plafonds. Für Zahnersatz etwa können pro Jahr und Person nicht mehr als 3 000 Euro zugezahlt werden, für Brillen und Kontaktlinsen nicht mehr als 100 Euro jährlich. Dafür bietet die CMCM das Paket, wie ihre anderen Leistungen, zum Jahresbeitrag für die ganze Familie an und unterscheidet, abgesehen von drei Altersstufen, nicht zwischen guten und schlechten Versicherungsrisiken. Frühbucher lockt sie mit „null Karenzzeit“: Bei Bedarf Zuzahlung sofort, ab 1. Januar. 

All das wirft jedoch die Frage nach dem Wohin der CMCM auf. Sie könnte sich auch politisch stellen. 

Denn das neue Paket wurde auch geschnürt, um auf die Caisse médico an sich und auf ihr allgemeines Regime aufmerksam zu machen. Seit Jahren schon stellt die CMCM-Spitze fest, es sei nicht mehr selbstverständlich, dass junge Menschen, sobald sie einkommensmäßig auf eigenen Füßen stehen, aus der Mitversicherung durch einen Elternteil hinüberwechseln in eine Eigenmitgliedschaft (d’Land, 22.06.2007). Des­halb lässt sie sich die Werbung für Denta [&] Optiplus einiges kosten und rückt noch ein wenig weiter davon ab, ergänzende Leistungen zur gesetzlichen Krankenversicherung anzubieten: Mit der Zuzahlung für Laser-Operationen zur Sehfehlerkorrektur hat die Caisse médico eine neue, eigenständige Leistung kreiert. Da solche Eingriffe in Luxem­burg noch nicht vorgenommen werden, kommt die CNS lediglich für Behandlungen im Ausland auf. Allerdings nur, falls die Sehkraft des Patienten sich um mindestens zehn Dioptrien verschlechtert hat. Im CMCM-Paket gilt keine Einschränkung.

Je weiter aber die CMCM wächst und ihren Handlungsradius ausdehnt, desto angreifbarer macht sie sich tendenziell: Als „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“ ist sie nicht der Gesetzgebung über die Versicherungsbranche unterworfen, sondern einem von 1961 datierenden Gesetz über die Mutualitätsvereine. Das Versicherungsgesetz legt in Artikel 4 fest, es sei nicht anwendbar auf Vereine, „dont les opérations sont restreintes à des localités ou à des catégories des personnes déterminées“. Dieser Forderung versucht die CMCM gerecht zu werden, indem sie nur aufnimmt, wer schon einer der ihr angeschlossenen 52 Sterbekassen angehört. 

Daneben jedoch setzen schon seit 1973 EU-Binnenmarktrichtlinien den Mutualitätsvereinen Limits für ihr Finanzgebahren: Wer jährlich mehr als fünf Millionen Euro an Beiträgen einnimmt, muss sich den Regeln für Privatversicherunen unterwerfen, legt Artikel 3 der geltenden Richtlinie 2002/13 EG fest. Die Bestimmung wurde nicht in Luxemburger Recht übernommen, ist aber EU-Recht. Und die Beitragseinnahmen der CMCM liegen deutlich höher: 2006 waren es 21 Millionen Euro im allgemeinen Regime und sechs Millionen für Prestaplus. 

Aber wahrscheinlich werden diese ohnehin bekannten Zusammenhänge im Sozialministerium berücksichtigt, denn zu den Reformüberlegungen im Gesundheitswesen, auf die die Krankenkassen-Quadripartite sich Mitte Oktober einigte, zählt die Suche nach „neuen Missionen“ für die CMCM: „En tout état de cause, il s’agira de proumouvoir les initiatives mutualistes et solidaires face aux mécanismes d’un marché de santé orienté vers les profits et d’éviter un développement vers une méde­cine à deux vitesses.“

Bleibt abzuwarten, wohin sich der Ansatz vor dem Hintergrund der CNS-Finanzlage entwickelt. Eine Zwei-Klassen-Medizin möglichst verhindern, sollen etwa Mutualitäten in Frankreich ebenfalls. Nur, dass sie dort einen sehr nötigen Beitrag neben den allgemeinen Krankenkassen leisten, die kaum 70 Prozent des Leistungsumfangs abdecken. Deshalb sahen in Luxemburg vor allem die Gewerkschaften stets in „zu viel Mutualität“ eine Gefahr für die Sozialversicherung. Ganz abgesehen davon, dass für große Mutualitäten ohne jede Frage die Versicherungsgesetze mit ihren Solvabilitätskriterien gelten und sie ihre Leistungen leider nicht immer so günstig anbieten können wie hierzulande es die Caisse médico noch vermag.

Peter Feist
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