Streik!

Bilder einer Gegengeschichte

d'Lëtzebuerger Land vom 22.04.2016

Die meisten vermuten sie, die wenigsten kennen sie: Es gibt auch eine Geschichts­erzählung, die nicht in den Schulbüchern steht, die nicht Thron und Altar, Nation und Europa verherrlicht. Die vom Alltag der einfachen Leute handelt, von ihrem Bemühen, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden, und von jenen, die es lieber selbst besser haben. Zum hundertsten Jubiläum der freien Gewerkschaften gab der OGBL einen Film über diese Geschichte von unten, über die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung, in Auftrag. Und damit der Film vielleicht auch von jenen angeschaut wird, von denen er handelt, beauftragte die Gewerkschaft den Regisseur Andy Bausch, den Erfinder des populären Luxemburger Genrefilms. Andy Bausch machte sich an die Arbeit mit jenen Ausdrucksmitteln, die er in mehr als einem Dutzend historischer Dokumentarfilme über Unterhaltungskünstler und Modeepochen erprobt hat und die Geschichte lebendig und kurzweilig machen sollen, mit historischen Filmdokumenten, nachträglich animierten Fotos, von Schauspielern nachgestellten Szenen, Interviews von Zeitzeugen…

Der Titel Streik! ist nicht nur eine Provokation, weil Andy Bausch seinen Film so nannte wie das Meisterwerk des großen Eisenstein. Sondern auch weil das Wirtschaftsministerium seit Jahrzehnten Broschüren durch die Welt verschickt, laut denen hierzulande nie gestreikt wird, und auch die Gewerkschaften Streik für eine Notlösung fremder Länder halten, denen das Luxemburger Modell der Sozialpartnerschaft nicht vergönnt ist.

Die unterschiedliche Verfügbarkeit von Bildmaterial und Zeitzeugen aus den einzelnen Epochen führt dazu, dass Streik! im Grunde aus drei Filmen besteht, die von der Rahmenhandlung um eine im Nationalarchiv forschende junge Frau (Eugénie Anselin) zusammengehalten werden. Der filmisch interessanteste Teil über die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg zeigt, wie die Gewerkschaften im langen Kampf von Streiks und Kundgebungen, von brutaler Repression durch Polizei und Armee entstanden sind, erste Erfolge und schwere Rückschläge verbuchten, um bessere Löhne und menschlichere Arbeitszeiten durchzusetzen. Durch die Betonung der Arbeitskämpfe der aus Italien eingewanderten Arbeiter, des von der Polizei niedergeschossenen Streiks von 1912, der republikanischen Bewegung, der Belagerung des Parlaments durch wütende Arbeiter oder der Betriebsbesetzungen von 1921 erzählt der mit Hilfe der Historiker Denis Scuto und Marc Limpach entstandene Film erfolgreiche eine Gegengeschichte zur herrschenden Geschichte der Herrschenden.

Der politisch interessanteste Teil zeigt dagegen Gewerkschaftsveteranen, die in kontroversen Interviews berichten, wie die gewerkschaftliche Einheit wieder dem Kalten Krieg zum Opfer fiel. Sozialistische Gewerkschafter räumen erstmals öffentlich ein, dass sie nach dem Krieg Geld aus den USA bekamen, um antikommunistische Organisationen aufzubauen, kommunistische Gewerkschafter geben zu, dass die angebliche Fusion des FLA mit dem LAV eine Kapitulation war. Mit allerlei Anekdoten erinnern sie sich daran, wie sie den modernen Sozialstaat erkämpften, wie Mai ’68 hierzulande mit dem Streik vom 9. Oktober 1973 nachgeholt wurde. Hatte die linksliberale Koalition von 1974 im Gegensatz zur aktuellen eine Massenbasis?

Ausgiebig gewürdigt, wie schon zuvor der sozialdemokratische Patriarch Dr. Welter, werden die heroischen Gewerkschaftsführer, von Pierre Krier, Nic Biever über Antoine Weiss bis John Castegnaro, als weitsichtige und trinkfeste Dickschädel. Weniger rühmliche Episoden, wie das Gekungel mit der sozialistischen Partei, das Doppelspiel im Kampf gegen das Maulkorbgesetz, die nationale Lösung beim Debakel der MMRA oder der mit Hilfe einer Steueroase finanzierten Sozialstaat, werden beschönigt oder ebenso übergangen wie FNCTTFEL, LCGB, CGFP, Aleba und die anderen Gewerkschaften.

Mit der großen Stahlkrise, die den Kernbereich der Luxemburger Gewerkschaften erschütterte, beginnt für den Film die Gegenwart. Aus dem von Bergleuten und Stahlarbeitern dominierten LAV wurde der für Arbeiter, Angestellte und Beamte gleichermaßen offene OGBL. Dass er allerdings als Einheitsgewerkschaft scheiterte, wird noch immer als CSV-Komplott dargestellt. Am Ende gleitet der Dokumentarfilm dann in einen Werbefilm ab, wo OGBL-Funktionäre noch schnell alles aufzählen, was ganz vorne im Aktionsprogramm der Gewerkschaft steht: die Frauen, die Grenzpendler, die Dienstleistungssyndikate, das Einheitsstatut... Wenn es am spannendsten, am nötigsten und am kompliziertesten wird, endet der Versuch, eine Gegengeschichte zu erzählen, eine Gegengeschichte zur Gegenwart.

Streik! von Andy Bausch läuft ab dem 11. Mai im Kino.
Romain Hilgert
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