Wenn mit der Pensionsreform die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung gebunden werden soll, muss vorher geklärt werden, ob auch hierzulande Geringverdiener früher sterben

Wird dem, der hat, gegeben?

d'Lëtzebuerger Land du 06.01.2011

Der LCGB hat sich bereits zu Wort gemeldet. Sollte die Regierung eine Pensionsreform vorschlagen, die auf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters abzielt, werde man sie „nicht mittragen“, kündigte LCGB-Präsident Robert Weber am Montag auf seinem Neujahrsempfang an.

Nachdem im Dezember das Rahmengesetz zur Gesundheitsreform vom Parlament verabschiedet wurde, soll die Pensionsreform der nächste Wurf werden. Dem Vernehmen nach will Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) darüber schon in den kommenden Wochen mit dem Regierungsrat zu diskutieren beginnen.

Dass dabei eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erwogen werden könnte, mutet zunächst sehr unwahrscheinlich an. Zwar ist im Koalitionsvertrag vage von der „durée de la vie active“ als einer von 17 „Stellschrauben“ die Rede. Doch über die soll mit den Sozialpartnern und der politischen Klasse des Landes erst einmal diskutiert werden können. Und die Erklärungen, die der LSAP-Sozialminister letztes Jahr mehrmals in aller Öffentlichkeit machte, wonach eine „Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters derzeit kein Thema“ sei, dürften auch für die Mehrheit des großen Koalitionspartners gelten: Für einen so weit reichenden Schritt hat keine der beiden Regierungsparteien ein Mandat vom Wähler.

Fragt sich nur, ob unter „Erhöhung des Renteneintrittsalters“ nicht auch verstanden kann, was Di Bartolomeo im Juni letzten Jahres bei einer rentenpolitischen Debatte in der Abgeordnetenkammer bereits eine „erste Piste, die schon ganz festgetreten ist“, nannte: „die Bindung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung“. Ab einem „gewissen Datum“, setzte der Minister hinzu, müsse es zumutbar sein, „dass man, wenn die Lebenserwartung um einen Monat pro Jahr steigt, entsprechend auch einen Monat pro Jahr länger arbeiten kann, länger arbeiten muss, wenn man – wenn man! – mit heute vergleichbare Leistungen haben will“.

Müssten die Gewerkschaften das als arbeitnehmerfeindlich ablehnen? Prognosen des EU-Statistikamts Eurostat zufolge dürfte die mittlere Lebenserwartung 60-jähriger Männer, die 2008 bei 21 Jahren lag, immerhin bis zum Jahr 2060 auf 26 Jahre zunehmen; die der 60-jährigen Frauen von 24 Jahren im Jahre 2008 auf 29 Jahre im Jahr 2060. Da fragt es sich schon, wie es dauerhaft zusammengehen kann, dass einerseits die Generationen füreinander einstehen sollen, andererseits jede Generation eine Rente gemäß der eigenen Lebensleistung beanspruchen will, ohne länger zu arbeiten.

Für Luxemburg kommt hinzu, dass seine Einwohner sich offenbar einer recht hohen Lebenserwartung bei guter Gesundheit erfreuen: Laut Eurostat konnten im Jahr 2008 65-jährige Luxemburger Männer auf weitere 10,8 Jahre bei guter Gesundheit hoffen, 65 Jahre alte Frauen auf 11,6 Jahre. Nur in Dänemark, Schweden, Island und Norwegen blieben die 65-Jährigen beiderlei Geschlechts im statistischen Mittel noch länger gesund, um ihre Rente wirklich genießen zu können. So gesehen, erscheint der Ansatz, länger zu arbeiten, gerade für Luxemburg mit seinen hohen Rentenleistungen nicht unangemessen. Sogar das gesetzliche Renteneintrittsalter zu erhöhen, erschiene plausibel.

Die Frage ist aber nicht nur die, wie praktisch ermöglicht werden soll, den Beschäftigungsanteil Älterer zu erhöhen, und wie verhindert werden kann, dass dies zu Lasten Jüngerer geht. Die Frage ist auch, ob die allgemeine Lebenserwartung sowie die bei guter Gesundheit in der Gesellschaft gleichmäßig genug verteilt sind, damit die Forderung, länger zu arbeiten, sozial gerecht wäre. Und es fragt sich sogar, wie sozial gerecht innerhalb einer Generation das derzeitige Pensionssystem mit seinem Beitrags- und Leistungsschema ist.

In Deutschland zum Beispiel wurde im Jahr 2006 vom Institut für Gesundheitsökonomie und Epidemiologie der Universität Köln errechnet, dass Männer mit einem Brutto-Monatseinkommen von mehr als 4 500 Euro ihre Rente fast acht Jahre länger beziehen als die mit unter 1 500 Euro Bruttoverdienst. Typisch sei, dass ein Einkommensstarker, der zwanzig Jahre lang seine Rente bezieht, während ein Einkommensschwacher nach zehn Jahren Rentenbezugsdauer stirbt, insgesamt vier Mal so viel Rente bezogen hat wie Letzterer, obwohl er in seiner beruflich aktiven Zeit nur etwa doppelt so viel an Beiträgen entrichtete. Und während 21 Prozent der Einkommensschwachen bereits vor Erreichen des Rentenalters stürben, seien es nur neun Prozent der Einkommensstarken.

Zu behaupten, dass in Luxemburg Geringverdiener durch ihre niedrigere Lebenserwartung die Rentenleistungen der Einkommensstarken auf ähnliche Weise regelrecht subventionieren würden, wäre womöglich falsch. Die Luxemburger Rentenformel geht in ihrem Ursprung zwar auf die deutsche zurück. Doch schon ab den Sechzigerjahren wurde sie immer wieder – zuletzt vom Rentendësch 2001 – um Pauschalkomponenten ergänzt, die sich an der Beitragsdauer orientieren statt an der Beitragshöhe und insbesondere die Renten von Geringverdienern aufwerten. Dass für die Rentenberechnung im Privatsektor die gesamte Beitragskarriere herangezogen wird und nicht die besten Jahre, dient ebenfalls der Umverteilung zugunsten von Geringverdienern und ist in Europa keineswegs Standard. In Frankreich etwa werden erst neuerdings die 25 besten Berufsjahre zur Rentenberechnung herangezogen – vorher waren es die 15 besten Jahre.

Die genauen Zusammenhänge von Einkommenshöhe und Lebenserwartung hierzulande aber sind im Grunde völlig unbekannt. Lediglich 1988 ermittelte die Generalinspek-tion der Sozialversicherung (IGSS), dass die Lebenserwartung damals 65-jähriger Versicherter mit Arbeiterstatut mit 10,6 Jahren im Schnitt vier Monate unter der von 65 Jahre alten Privatbeamten lag. Mit diesem Befund kann man heute nicht nur wenig anfangen, weil er 22 Jahre alt ist, sondern auch, weil nicht klar ist, was bei der Unterscheidung zwischen überwiegend manuell und überwiegend intellektuell tätig Gewesenen so alles mitgemessen wurde: von der Gesundheitsgefährdung am früheren Arbeitsplatz über Bildungsstand und Einkommenshöhe bis hin zum individuellen Risikoverhalten, das die Gesunderhaltung beeinflusst.

Für die nun anstehende Reform empfahl die IGSS in der Stärken-Schwächen-Analyse des Pensionssystems, die sie 2009 für die Tripartite erstellte, eine Untersuchung der allgemeinen Lebenserwartung sowie der bei guter Gesundheit in Abhängigkeit vom Sozialstatut der Versicherten. Geplant aber ist ihre Durchführung bisher noch nicht – methodischer Probleme wegen. Doch falls, wie der Sozialminister erklärt hat, tatsächlich schon fest steht, dass für gleich bleibend hohe Rentenleistungen künftig länger gearbeitet werden soll, wäre eine solche Untersuchung eigentlich unverzichtbar.

Denn mit ausgeprägten Sterblichkeitsdifferenzen je nach Sozialstatus ist Deutschland kein Einzelfall. Dergleichen wurde in vielen Ländern ermittelt. Für die vielleicht größte europäische Untersuchung über Les inégalités sociales de mortalité en Europe schließlich, die 2009 veröffentlicht wurde, untersuchten Forscherteams aus Frankreich, Schweden, den Niederlanden und Estland über Jahre hinweg insgesamt 3,5 Millionen Todesfälle in 16 Staaten und Regionen Europas in Abhängigkeit vom Bildungsstand und mit der Todesursache verbundenen Gesundheitsrisiken der Verstorbenen. Resultat: Je nach Land wiesen Männer mit Sechs-Klassen-Schulbildung eine um 150 bis 450 Prozent höhere Sterblichkeit auf als die mit Abitur oder mehr; bei Frauen lag die Spanne zwischen 100 und 300 Prozent je nach Land. Luxemburg wurde nicht untersucht. Aber es bliebe zu beweisen, ob die Lage hierzulande noch besser ist als etwa in Schweden, wo laut Eurostat die Lebenserwartung bei guter Gesundheit für 65-Jährige etwas höher ist; wo Ende der Neunzigerjahre die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den ärmsten und den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung nur zwei Jahre betrugen, und wo, der großen EU-Mortalitätsstudie nach, Männer wie Frauen mit geringer Schulbildung eine um 200 Prozent höhere Sterblichkeit aufwiesen als die mit Abitur oder mehr.

Unterdessen deutet die auch hierzulande einsetzende Gesundheits-Sozialforschung durchaus auf sozia-le Unterschiede zumindest bei den Gesundheitsrisiken hin: Studien des Differdinger Ceps/Instead vom letzten Jahr nach waren in einer in fünf Gruppen eingeteilten Einkommensskala die Niedrigverdiener um den Faktor 1,6 häufiger fettleibig als die in der höchsten Einkommensgruppe. Damit ist auch das Risiko, vorzeitig an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder an Darmkrebs zu sterben, sozial unterlegt. Dazu passt vielleicht, dass das Ceps in einer Erhebung unter den 2008 und 2009 im Herzchirurgiezentrum INCCI behandelten Patienten überwiegend Arbeiter (34 Prozent), vor Privatbeamten (20 Prozent), öffentlich Bediensteten und Freiberuflern (je 12 Prozent) zählte.

Zu guter Letzt wäre es auch wichtig zu wissen, welchen Einfluss auf die Entwicklung der Lebenserwartung der besondere Umverteilungscharakter des heimischen Pensionssystems hat. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die höhere Sterblichkeit sozial Schwacher nicht vor allem davon abhängt, dass sie, wie das Klischee weiß, zu viel rauchen und trinken, zu fett essen und sich zu wenig bewegen würden: Einkommensschwache, die gar nicht rauchen und trinken, sterben ebenfalls früher. Und eine USA-weite Untersuchung ermittelte, dass der Lebensstil höchstens für ein Viertel aller gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen sorgt.

Das Problem ist nur: Sollte sich ergeben, dass das Luxemburger Pensionssystem, bezogen auf die Lebenserwartung der Versicherten, nicht gerecht genug ist, oder ungerecht würde, falls man die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung bände – was dann? Dass künftig die pénibilité einer Tätigkeit berücksichtigt werden soll, hat der Sozialminister angekündigt. Das hieße, bestimmte Berufsgruppen früher in Rente zu schicken. Es wäre vermutlich wesentlich einfacher zu realisieren, als bestimmte Einkommensgruppen früher zu verrenten.

Peter Feist
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