Iryna Kyzyma forscht am Luxembourg Institute of Socio-economic Research zu Armut und prekären Lebensverhältnissen

Gesichter der Armut

Die Ökonomin Iryna Kyzyma vom Luxembourg Institute of Socio-economic Research
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 15.11.2019

„Ich habe schon als kleines Mädchen Mathematik gemocht“, sagt Iryna Kyzyma. Wäre es nach dem Berufswunsch ihrer Eltern gegangen, beides Ärzte, trüge die Ukrainerin heute den Doktortitel der Medizin – und nicht der Ökonomie. Doch für das Mädchen stand früh fest: Sie begeisterte sich für Zahlen und Rechnen – und es gelang ihr mit Beharrlichkeit, ihre Eltern zu überzeugen.

Die politischen Ereignisse in ihrem Heimatland, – 1991 wählte die ukrainische Bevölkerung in einem Referendum die Unabhängigkeit, die anschließenden Wirtschaftsreformen und politischen Turbulenzen stürzten viele Ukrainer in noch tiefere Armut als ohnehin schon –, bekommt das Mädchen eher am Rande mit: Sie und ihre Schwester wachsen von ihren Eltern relativ behütet auf. Gleichwohl hat ihr Umfeld sie geprägt: Damals erwachte ihr Interesse für soziale Fragen – und für Europa.

Nach der Sekundarschule studierte die junge Frau Wirtschaftswissenschaften in Kirovohrad. „Das Studium war sehr auf Mathe ausgerichtet“, erinnert sich Kyzyma. Während Kollegen nach dem Studium in die Privatwirtschaft gingen, interessierte sie sich für die empirische Forschung und den internationalen Austausch: „Ich wollte etwas machen, dass der Gesellschaft nützlich sein kann und gesellschaftlich relevant ist“, erklärt sie. Zunächst beschäftigte sie sich unter anderem mit sozialpolitischen Fragen rund um das Thema Gesundheit.

Als Mathecrack ans Liser Durch Zufall wird sie 2009 auf einer Konferenz in Luxemburg, organisiert vom damaligen Ceps-Instead (heute Liser), aufmerksam auf ein Master-Programm, das sich mit Analysen der Sozialpolitik befasst. Das Ceps-Instead war wegen der Längsschnitt-Datenbank „Panel Socio-Economique Liewen zu Lëtzebuerg“ schon damals eine Referenz in Bevölkerungsstudien über die Landesgrenzen hinaus. Weil Kyzyma vor allem im Bereich der Ökonometrie und Statistik weitere Kompetenzen und Kenntnisse erwerben wollte und ihr das kleine Land auf Anhieb gefiel, meldete sie sich.

„Es war genau das, was ich gebraucht habe“, sagt sie im Rückblick zufrieden. Mit anderen jungen Forschern aus allen Herren Länder, darunter den USA, Kanada, Indien, aber auch den Niederlanden und Belgien, wird sie angenommen und besucht fortan Lesungen mit Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland. Es ist ein weiterer Schlüsselmoment in ihrer akademischen Laufbahn; ihr Forschungsinteresse entwickelt sich immer stärker in Richtung sozialpolitische Analysen. „Wir diskutierten Rechenmodelle und vertieften Kenntnisse zu Theorien und Methoden der empirschen Armutsforschung.“ Am Ende des Programms hatte jede/r Graduierte einen Artikel im Stile derer zu schreiben, die Kyzyma als Vorbereitung für das Interview empfohlen hat und die auf der Liser-Webseite einsehbar sind.

Für den Laien erschließt sich diese wissenschaftliche Lektüre nicht unbedingt sofort. Denn es geht weniger um Textanalysen sozialer Ungleichheit, sondern vor allem um die statistische Herleitung, um Rechenmodelle, ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen. Die Artikel sind gespickt mit mathematischen Formeln und mitunter entsprechend trocken zu lesen. Die dahinterstehenden Überlegungen sind freilich relevant, um Armut in ihren vielen Dimensionen besser zu verstehen: „Sicher gibt es Bevölkerungsgruppen, die ein höheres Armutsrisiko tragen als andere“, sagt Iryna Kyzyma. Das seien vor allem Alleinerziehende und Niedrigqualifizierte. „Will wenn man ihre Situation genauer verstehen, muss man die Datensätze mehr im Detail analysieren.“

Eine Gretchenfrage, die Armutsforscher seit jeher umtreibt: Wie Armut so messen, dass sie in ihrer Komplexität erfasst wird und gleichwohl taugliche sozialpolitische Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung entwickelt werden können? „Armut hat viele Gesichter: Die einen bleiben lange in der Armut wie in einer Falle gefangen, andere bewegen sich nach kurzer Zeit wieder heraus. Das zu erfassen und die Gründe dafür besser zu verstehen, erlaubt wichtige Rückschlüsse für die angewandte Sozialpolitik“, erklärt Kyzyma.

Stationen in Bremen und Harvard Die Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und mit Verteilungsfragen bildete auch den Schwerpunkt ihrer Doktorarbeit Changing patterns of income poverty in rich countries, die sie im Rahmen eines Postgraduierten-Programms und einer Kooperation des Liser und der Universität Bremen schreibt. Mit Hilfe von Daten aus dem „Deutschen Sozio-ökonomischen Panel“ untersucht sie Armutsverläufe in Deutschland von 1992 bis 2009. Ein Fazit: Die Armut ist trotz anhaltender Wirtschaftskonjunktur in Deutschland nicht nur gestiegen, sie ist zudem hartnäckiger und häufiger geworden. Soll heißen: Betroffene bleiben länger in sozialen Notlagen stecken oder fallen wiederholt hinein. Soziologen nennen dies die Armutsfalle.

„Das deutsche Sozialsystem hält Menschen länger in Armut fest“, so Kyzymas Beobachtung. Das gelte vor allem für Haushalte mit einem armen Haushaltsvorstand von über 55 Jahren und für Alleinerziehende. Betreut wurde die Dissertation, die Kyzyma mit Auszeichnung abschließt, unter anderem von Olaf Groh-Samberg, Soziologie-Professor der Uni Bremen und eine Koryphäe in Analysen sozialer Ungleichheit.

Während dieser Zeit, zwischen September 2013 und Januar 2014, reiste Kyzyma zudem im Rahmen eines Forschungsstipendiats in die USA, um an der renommierten Harvard Universität Recherchen zur sozialen Ungleichheit zu vertiefen. Der Blick hinter die Zahlen, der Versuch, die Komplexität von Armut besser zu verstehen, steht auch dort im Mittelpunkt. Heute ist die Ukrainerin am Liser fes als Wissenschaftlerin angestellt. Ihre Familie wohnt in Luxemburg-Stadt und ihre Kinder gehen in Walferdingen in den Kindergarten. Als Wahl-Luxemburgerin schimpft sie wie alle anderen über das Verkehrsaufkommen – wenn sie nicht gerade in ihrem Büro im fünften Stock der Maison des Sciences humaines der Uni in Esch-Belval sitzt und schreibt.

Ein kürzlich von ihr veröffentlichter Forschungsartikel hinterfragt die Aussagekraft der Armutsgrenze, wie sie in der Europäischen Union im Rahmen von Armutsstatistiken angewandt wird. EU-weit gilt als Armutsschwelle ein Einkommen von 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens der Bevölkerung. „Das ist insofern problematisch, weil die 60-Prozent-Schwelle von Land zu Land ein unterschiedlich hohes Einkommen bedeutet, das je nach Kontext und Lebensstandard andere Härten mit sich bringt“, sagt Kyzyma. „Wer mit einem Euro unterhalb der 60-Prozent-Grenze liegt, zählt in der Statistik genauso als arm wie jemand, dessen Einkommen weit unterhalb der Armutsschwelle liegt.“

Wie Armut messen? Für ihren Beitrag untersuchte sie mittels Daten aus den „European Union Statistics in income and living conditions“ (EU-Silc) das Netto-Haushaltseinkommen (unter Abzug von Steuern und Sozialtransfers) und fand dabei heraus, dass die Armutsintensität, also die Lücke, die zwischen der 60-Prozent-Armutsgrenze und dem tatsächlich verfügbaren Einkommen, je nach EU-Land unterschiedlich ausfällt. Dabei galt prinzipiell, dass EU-Mitgliedstaaten, die ein vergleichsweise niedriges Armutsrisiko aufwiesen, auch eine geringere Armutsintensität hatten. Das stimmte aber nicht immer: Belgien beispielsweise hat eine höheres Armutsrisiko als Österreich, das heißt, mehr Leute sind arm, und gleichzeitig eine niedrigere Armutsintensität: Weniger sind also extrem arm, ihre Einkommen liegen näher an der 60-Prozent-Schwelle. Auch Schweden und Zypern haben sehr ähnliche Armutsraten, aber die Armutsintensität in Schweden liegt signifikant höher. „Ein Grund dafür könnte sein, dass die Hilfsmaßnahmen in Schweden sehr Arme schlechter erreichen“, überlegt Kyzyma laut.

Ob ihr nicht manchmal langweilig werde, Statistiken zu kalkulieren und zu vergleichen? Einer ihrer Artikel über den Zusammenhang von Gesundheit und Bildungsniveau wurde von mehreren Medien in Luxemburg aufgegriffen. „Ich hoffe, dass auch Leute aus der Politik ihn lesen und sich Gedanken machen, was das für sozialpolitische Maßnahmen heißen könnte“, sagt sie. Kyzyma greift noch einmal ihr Ein-Euro-Beispiel auf: Die Politik könnte wohl mit einigen Euro Sozialtransfers etliche Menschen über die Armutsschwelle heben und so die Statistik polieren. „Doch den Armen, deren Einkommen weit unterhalb der Armutsschwelle liegt, ist damit nicht geholfen“, gibt Kyzyma zu bedenken. Dass Armut im Westen nicht einfach an einem wie auch immer definierten Durchschnittswert von Haushaltseinkommen festgemacht werden kann, diskutieren Sozialwissenschaftler seit den 1990-ern. Die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut soll eigentlich helfen, sozioökonomische Benachteiligung und Verteilungsungleichheiten in wohlhabenden Gesellschaften, wo vergleichsweise selten jemand verhungert, realistischer zu erfassen.

Soziale Ungleichheiten sind jedoch komplex. „Eine perfekte Methode, um Armut zu messen, gibt es nicht“, ist Kyzyma überzeugt. Manche Forscher versuchen, ein kompletteres Bild von Armut zu erlangen, indem sie stärker die Betroffenen einbinden, sie zu ihrem Lebensstandard und ihren Bedürfnissen befragen. „Doch was der eine als arm empfindet, ist für andere ein minimalistischer Lebensstil und bewusst gewählter Konsumverzicht“, wendet Kyzyma ein. Wichtige Faktoren seien zudem die Dauer und die Möglichkeit, aus der Verarmung wieder herauszukommen. „Es macht einen großen Unterschied, ob jemand temporär in Armut rutscht, oder ob sich prekäre Lebenslagen im Lebenslauf verfestigen“, mahnt die Forscherin. Bei Armut gehe es um gesellschaftliche Beteiligung. Insbesondere für Kinder, die in Familien aufwachsen, die über längere Zeiten arm sind, seien solche Startbedingungen gefährlich: Armut kann sich über Generationen verfestigen.

Über ihr neuestes Forschungsprojekt verliert Kyzyma (noch) nicht viele Worte, das sei derzeit in Arbeit: Gemeinsam mit einem Team um Philippe Van Kerm, Professor für Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik an der Uni Luxemburg und auch am Liser tätig, untersuchen Kyzyma und ihre Kollegen, wie sich Elternschaft auf die Bildung- und die beruflichen Karrieren von Müttern und Vätern auswirken und wie sich die Entscheidung, Familie zu haben und Kinder zu bekommen, im Zeitverlauf aufs Haushaltseinkommen auswirken. Kinder und der Impakt von Elternschaft auf das individuelle Einkommen und den Lebensstandard hat Kyzyma bisher kaum unter die Lupe genommen. „Wenn man selbst Kinder hat, rückt das zunehmend ins Blickfeld“, sagt sie nachdenklich.

Ines Kurschat
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