EU-Kandidatur Junckers gescheitert

Ich liebe euch immer noch

d'Lëtzebuerger Land du 26.11.2009

Die Enttäuschung muss um so größer gewesen sein. Denn Premier Jean-Claude Juncker schien sich zum Schluss wieder Hoffnungen gemacht zu haben, doch noch erster ständiger Ratspräsident der Europäi­schen Union zu werden. „Der Luxemburger war so nah dran“, meldete die konservative Welt nach dem Gipfel letzte Woche. Doch „Juncker ist neben seinem alten Intimfeind Blair der große Verlierer des Abends.“

Wenn ein großer Sohn der Heimat im Ausland scheitert, werden auch die patriotischen Gefühle der zu Hause Gebliebenen verletzt. Deshalb warf das Luxemburger Wort der EU vor, „eine wichtige Chance vertan“ zu haben, und das Tageblatt tröstete sich und ihn: „il ne fait de doute qu’il était le meilleur des candidats possibles“. So wie auch die Fußballnationalmannschaft immer ganz unverdient verliert. Die DP bescheinigte in einer Presseerklärung, dass „Jean-Claude Juncker alle Voraussetzungen für den Posten des ersten Präsidenten des Europäi­schen Rates gehabt hätte“, und selbst die kommunistische Zeitung vum Lëtzebuerger Volleg schwärmte, „dass in der Politik fast immer nicht der Bessere auf den wichtigen Posten kommt, sondern der, der sich von den Mächtigen die Richtung angeben lässt. Zu denen gehört Juncker – normalerweise – nicht.“

Der Misserfolg des Premierministers könnte aber außen- und innenpolitische Folgen haben, die nicht nur ihn betreffen. Am Ende zerschellte, was verschiedentlich als Krönung seines Lebenswerks angekündigt worden war, offenbar am Widerstand des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Glaubt man Berichten über die vertraulichen Gespräche am Donnerstag vergangener Woche, dann hatte der schwedische Ratspräsident Fred­rik Reinfeldt vor dem gemeinsamen Essen der Staats- und Regierungschefs ein Sondierungsgespräch mit Präsident Sarkozy, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem britischen Premier Gordon Brown geführt. Dabei sei Junckers Kandidatur auf die entschiedene Ablehnung Sarkozys gestoßen. Merkel habe dagegen, je nach Bericht mehr oder weniger halbherzig, eingeräumt, dass zahlreiche Mitgliedsstaaten sich für den Luxemburger Premier aussprächen, doch schien ihr eine gemeinsame Vorgehensweise mit Frankreich wichtiger als Helmut Kohls „Ju­nior“. Laut teilweise widersprüchlichen Berichten hätte selbst der mit der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik getröstete Brown sich mit Blair-Gegner Juncker abfinden können.

Doch selbst wenn der Ratspräsident gar nicht einstimmig bestimmt werden muss, ist eine Nominierung gegen einen der wichtigsten Mitgliedstaaten, Frankreich, unvorstellbar. Was verschiedene Medien, wie Libération, als ein „französisches Veto“ gegen Juncker bezeichneten, nannte der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn im Fußballjargon „Nicolas’ Handspiel“.

Es bleibt die Frage, ob nach den diplomatischen Rückschlägen der letzten Monate die gescheiterte Kandidatur des Premiers die außenpolitische Stellung des vorübergehend bereits als Steueroase isolierten Lan­des nicht zusätzlich geschwächt hat. Schließlich wurde der Eindruck verstärkt, dass selbst die engsten Nachbarn auf die Dienste eines Helden von Dublin verzichten können, wenn sie nicht gar, wie im Fall des französischen Präsidenten, offene Feindschaft gegen ihn und das Großherzogtum zu hegen scheinen. So dass nicht nur Luxemburgs Regierungschef, sondern das einst stolze Gründungsland der „Ceca“ selbst, dessen diplomatischer Einfluss vorübergehend ungleich größer als seine Einwohnerzahl und seine Landesfläche war, Gefahr läuft, wieder rapide an Bedeutung zu verlieren.

Die Rückkehr des geschlagenen Soldaten aus Brüssel dürfte aber auch innenpolitisch nicht spurenlos bleiben. Der schwedische Premierminister Reinfeldt hatte vor Wochen einen polnischen Vorschlag, öffentliche Anhörungen der Kandidaten für den Ratsvorsitz zu veranstalten, als „unrealistisch“ abgelehnt. Schließlich werde nach amtieren­den Regierungschefs gesucht, und kein Premier wolle das Risiko eingehen, zurück zu seinen Wählern kehren zu müssen und ihnen zu sagen: „Ich habe den Job nicht gekriegt, aber ich liebe euch immer noch.“

Was Reinfeldt für unrealistisch hielt, muss Jean-Claude Juncker nun tun: Nachdem er wochenlang gezeigt hatte, dass er den Ratsvorsitz in Brüssel mehr liebt als seine Wähler in Luxemburg, kehrt er nun nach Hause zurück und muss ihnen nach seinem gescheiterten Seitensprung erklären, dass er sie immer noch liebt. Allerdings zeigen Junckers hohe Popularität und die nationale Wagenburgmentalität, dass er diese Peinlichkeit politisch besser überleben dürfte als irgendein anderer Premier der Union.Trotzdem hat die Abfuhr in Brüssel das Ansehen des Premiers beschädigt. Bisher gab er seinen Wählern und Parteikollegen immer zu verstehen, dass sich die Großen dieser Welt um seine Talente rissen, ihm ständig neue wichtige Ämter anböten, die er meist aus Liebe zu seinen Wählern abgelehnt habe – selbst wenn diese ihn wegen der Reform der Steuerklassen oder der Beamtenpensionen mit Drohbriefen überschütteten.

Doch am 19. November 2009 hat Jean-Claude Juncker für alle ersichtlich seinen politischen Zenit überschritten. Nicht genug damit, dass er sich öffentlich um ein Amt bewerben musste, statt es angedient zu bekommen, er erlitt auch noch eine Abfuhr. Die Wähler und seine Partei, die sich anscheinend glücklich schätzen konnten, einen Politiker zu haben, dessen Talent zu groß für das kleine Land war, gewinnen nun den Eindruck, dass er wieder auf ihr Maß schrumpft – selbst wenn Frankreich ihm nicht auch noch nächste Woche das Amt des Mister Euro wegschnappt. Wie sie scheint er jetzt für immer in der Enge der Landespolitik gefangen zu bleiben. Was selbstverständlich auch seinen christlich-sozialen Parteikollegen neuen Mut gibt, den Premier als Ihresgleichen anzusehen und ihn für ersetzlich zu halten.

Romain Hilgert
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