Schweinegrippe

Impfunlust

d'Lëtzebuerger Land du 29.10.2009

Ein Publikumsrenner scheint sie hierzulande nicht zu werden – die Schweinegrippe-Impfung. Am Dienstagabend, am Ende des ersten Impftags mit dem frisch angelieferten, neu entwickelten H1N1-Vakzin, zählte das Gesundheitsministerium 723 Geimpfte. Einen Tag später waren es 800. Hochgerechnet auf am Dienstag sechs, am Mittwoch sieben Centres de vaccination landesweit, wurde dort während der Öffnungszeiten zwischen 12 und 20 Uhr im Schnitt alle vier Minuten eine Injektion mit dem Wirkstoff Pandemrix verabreicht. Bei so wenig Andrang konnte Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) gestern die Impfzentren als ab sofort für alle offen erklären.

Denn spätestens seitdem Anfang Oktober in Deutschland bekannt wurde, dass dort für die Regierung, für hohe Beamte sowie für die Armee ein anderer Impfstoff bestellt wurde als für den Rest der Bevölkerung, lässt sich auch in Luxemburg so gut wie jedem Internet-Forum mehr als nur Skepsis gegenüber dem Impfstoff und seinen Bestandteilen entnehmen – Verschwörungstheorien inklusive. 

An den Ergebnissen einer repräsentativen Blitzumfrage, die das Meinungsforschungsinsitut TNS Ilres vor acht Tagen veröffentlichte, konnte da nur noch deren Deutlichkeit überraschen: Lediglich sieben Prozent der 16- bis 64-Jährigen würden sich „bestimmt“ oder „wahrscheinlich“ gegen das pandemische Virus impfen lassen.

Aber vermutlich ist es nicht nur so, dass „draußen im Land“ der eine die Vorurteile des anderen verstärkt. Denn die Umfrage ergab auch, dass die Impfung vor allem abgelehnt wird, weil man sie beim aktuellen Stand der Bedrohung durch die Schweinegrippe für übertrieben hält. In ihren Einschätzungen waren die Befragten sich bemerkenswert sicher: Lediglich jeder Zwanzigste nannte sich selbst „eher nicht“ oder „gar nicht“ informiert zum Thema.

Was da aufscheint, sind die Widersprüche einer Gesellschaft, die auf neue Art ihre Krankheitsrisiken im Griff zu halten versucht. So plausibel es ist, sich wenig bedroht zu fühlen durch die „Neue Grippe“, die zwar ansteckend ist, in der Regel jedoch nach wie vor banal verläuft: Vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheit her betrachtet, ist eine solche Einstellung unsolidarisch.

Worum es geht, beschreibt das Robert-Koch-Institut, die in Deutschland für Infektionschutz zuständige Stelle, in einem vor zwei Wochen herausgegebenen Epidemiologischen Bulletin: Es sei heute „erstmals“ möglich, „frühzeitig in das pandemische Infektionsgeschehen einzugreifen, durch Impfung die fehlende Grundimmunität in der Bevölkerung zu induzieren und so die Zahl der Infektionen sowie Krankheitsfälle zu begrenzen“1.

Also sollen in der anbrechenden kalten Jahreszeit möglichst viele H1N1-Erkrankungen vermieden werden. Immerhin fielen auf der Südhalbkugel des Planeten im kürzlich zu Ende gegangenen Winter die Erfahrungen mit der Pandemie durchaus unterschiedlich aus: Ein vergangene Woche veröffentlichter Bericht für das European Center for Disease Prevention and Control (ECDC) in Stockholm stellt fest, dass die Zahl der Krankenhauseinweisungen wegen H1N1 in der Süd-Hemisphäre von Land zu Land um den Faktor 15 auseinanderlag. Die Häufigkeit von Todesfällen war in manchen Ländern nur halb so hoch wie bei saisonalen Grippewellen, in anderen dagegen doppelt so hoch. Wer schwerer an H1N1 erkrankte, musste nicht selten auf eine Intensivstation gebracht werden. In Australien zum Beispiel war das für bestimmte Patientengruppen viel häufiger nötig als man anfangs erwartet hatte: für Schwangere neun Mal, für schwer Übergewichtige fünf Mal und für chronisch Asthma-Kranke zwei Mal häufiger2. Und auf einem Treffen im kanadischen Winnipeg Anfang September stellten Intensivmediziner fest, der Anteil der schwer an H1N1 Erkrankten sei mit schätzungsweise noch unter einem Prozent zwar klein, aber diese Menschen würden „sehr schnell tödlich krank“3. Warum, ist nach wie vor nicht endgültig geklärt.

Das den Impfkampagnen unterliegende Vorsorgeprinzip reicht jedoch noch weiter. Je länger das Schweinegrippevirus überwiegend nur harmlose Krankheiten hervorruft, aber dennoch sehr ansteckend bleibt, desto mehr tritt in den Vordergrund, den Erreger in seiner Veränderungsfähigkeit einzuschränken: Man werde, sagt Claude P. Muller, Chef des Instituts für Immunologie am Laboratoire national de Santé, vielleicht erst in zwei Jahren wissen, was die Impfungen in diesem Jahr gebracht hätten. Man habe es mit einem neuen Virus zu tun, das weiter zirkulieren und sich verändern kann. „Es kann mutieren. Es kann auch noch einmal zurück ins Schwein gehen, dort pathogener werden, und dann zurückkehren in den Menschen. Oder es kann zwischenzeitlich Vögel befallen. Und es kann Resistenzen gegen antivirale Medikamente entwickeln.“

Könnte man diese Risiken reduzieren oder kalkulierbar machen, indem man die Ausbreitung des Virus über den Menschen einschränkt, sagt Muller, hätte man viel erreicht. Vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheit aus betrachtet, müssten sich so viele wie nur möglich impfen lassen.

Das ist viel verlangt – vielfach selbst von Ärzten und Krankenpflegern: Laut TNS-Ilres von vergangener Woche liegt die Impfbereitschaft von Gesundheitsberuflern mit acht Prozent nur um einen Prozentpunkt über der des Rests der Bevölkerung. Von den vom Land kontaktierten Direktoren der fünf Akutkrankenhäuser rechnete einer „mit einer zwanzigprozentigen Teilnahme des Personals an der Impfaktion“, ein zweiter gab an, bis Montag hätten sich nur fünf Prozent dafür gemeldet, ein dritter Klinikchef antwortete: „Nur wenige“. Luxemburg ist damit kein Einzelfall. In Belgien rechnete man vor einer Woche landesweit mit bestenfalls 30 Prozent4. In Großbritannien ermittelte eine Umfrage einer Krankenpfleger-Zeitschrift vor zwei Wochen 23 Prozent Impfbereitschaft im National Health Service5.

Man müsste die Zusammenhänge der öffentlichen Gesundheit mit der H1N1-Impfung besser kommunizieren, findet Jill Koullen, Vorsitzender des Cercle des médecins-généralistes im Ärzteverband AMMD, mit Blick auf seine Patienten. Denn tatsächlich dankt das Gesundheitsministerium in dem in alle Hausbriefkästen verteilten Informationsblatt Impfwilligen „für Ihre solidarische Haltung“, erklärt jedoch nicht, weshalb eigentlich. Koullen meint aber auch: „So viel ich weiß, hat kein EU-Land das zufriedenstellend gelöst.“

Was wiederum nicht verwundert: Die H1N1-Impfstoffe, die jetzt debattiert werden, weil sie in beschleunigten Verfahren zugelassen wurden und Wirkverstärker enthalten, sind Kriseninstrumente. Wenn etwas neu ist an der institutionalisierten Gesundheitsvorsorge im 21. Jahrhundert, dann der Umstand, dass sie die Abwehr von Erregern beinah wie einen Anti-Terrorkampf organisiert und die moderne Biomedizin ihr tatsächlich große Eingriffsmöglichkeiten eröffnet. Die Schweinegrippen-Vakzine enstanden in der Bedrohungslogik, die sich im April ergab, als man plötzlich vom Grippetod von hundert Menschen im nur ein paar Flugstunden entfernten Mexiko erfuhr, das Virus sich als äußerst ansteckend und schwere Schweinegrippe-Erkrankungen sich als schwer durchschaubar erwiesen.

Alle EU-Staaten hätten rasch und effizient einzugreifen beschlossen, sagt Danielle Hansen-Koenig, die Leiterin der Gesundheitsdirektion im Gesundheitsministerium. Die EU habe in Rechnung gestellt, dass das Virus sich verändern könnte, und absichtlich ein Vakzin mit Wirkverstärker bestellt. Der wurde in einem Impfstoff getestet, der gegen das Vogelgrippevirus H5N1 entwickelt worden war. „Es zeigte sich, dass der Impfstoff mit dem Booster gegen zwei Stränge von H5N1 wirkte, und wir hoffen, dass er gegen ein Schweinegrippenvirus, das sich geändert hat, ebenfalls noch wirksam sein könnte“, sagt Hansen-Koenig. – Das ist ein wesentlicher Unterschied zu dem „nicht-adjuvantierten“ Impfstoff, der in den USA verabreicht wird und für ausgesuchte Empfänger in Deutschland bestellt wurde: Mit ihm Geimpfte könnten womöglich an einem mutierten H1N1 eher erkranken als jemand, der ein Booster-Vakzin erhalten hat.

Und vielleicht werden die Injektionen ja bald schon gefragter: Falls die Entwicklungen in den USA übertragbar sind auf Europa, so könnten die Risiken, sich persönlich mit dem Virus zu infizieren und zu jenem unglücklichen Prozentsatz zu gehören, der schwer erkrankt, alle Bedenken um den Impfstoff übersteigen. Diese Wochew urde in den USA nicht nur der Notstand ausgerufen, um die Einrichtung von Notspitälern zu erlauben. Die Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta erklärten, die USA befänden sich jetzt „in der zweiten Welle der Pandemie“6. Es würden mehr Patienten mit H1N1 in Krankenhäuser eingewiesen, und junge Leute bis 24 Jahren seien besonders betroffen7.

Die Risiken des Impfstoffs und seiner Zusatzstoffe sind sehr komplex abzuwägen. So wird in den USA derzeit, spiegelbildlich zu Europa, eine Debatte um den Booster-freien Impfstoff geführt, der abgeschwächte, aber noch lebende Viruszellen enthält. Das in der EU benutzte Vakzin dagegen erinnert Impfkritiker, deren Befürchtungen am Montag der grüne Abgeordnete Jean Huss wiederholte, an einen Schweinegrippe-Impfstoff, der in den USA 1976 benutzt wurde und dort so gut wie erwiesermaßen Fälle des Guillain-Barré-Syndroms (GBS), einer Lähmung, hervorrief. Laut der deutschen Ständigen Impfkommission wurden sämtliche Impfstoffe gegen die saisonale Grippe auf erhöhte Inzidenz dieser Erkrankung getestet und nur bei zweien ein „geringfügig erhöhtes“ Risiko festgestellt1. Solche Untersuchungen fehlen für das Pandemie-Vakzin – allerdings: Einer Studie französischer Wissenschaftler von diesem Jahr zufolge können ausgerechnet Grippeviren Auslöser für GBS sein8. Vielleicht ist es ja besser, einfach keine Grippe zu bekommen. 

1 Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 41, 12.10.2009. www.rki.de
2 Baker, M.G. et al: „Pandemic H1N1 influenza lessons from the southern hemisphere“, Euro Surveillance 2009;14(42)
3 New Scientist, 8.9.2009
4 Le Soir, 20.10.2009
5 Nursing Times, 11.10.2009
6 „Schweinegrippe: Notstand in den USA“, Online-Dienst der Ärztezeitung am 27.10.2009, www.aerztezeitung.de
7 www.cdc.gov
8 Sivadon-Tardy, V. et al: „Guillain-Barré syndrome and influenza virus infection“, Cinical Infectious Diseases, 2009 Jan 1;48(1):48-56
Peter Feist
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