Kinder- und Altenbetreuung 1999-2004

Generations

d'Lëtzebuerger Land vom 06.05.2004

Die Luxemburger Familienpolitik liege international an der Spitze, heißt es in der Frühjahrsausgabe des an alle Haushalte verteilten Magazins der CSV-Fraktion Den Espresso, das auf zehn Seiten die Bilanzierung von fünf Jahren CSV-Regierungsbeteiligung unternimmt. Es ist viel-leicht nicht zufällig, dass zum Beweis für die "dauerhafte und unabhängig von Wahlgängen gepflegte Politik der CSV, bei der die Familie im Mittelpunkt steht" und die die Familien "heute mehr und besser unterstützt als noch vor fünf Jahren", an vor-ders-ter Stelle die Transferzahlungen an Haushalte mit Kindern hervorgehoben werden und erst weiter hinten der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen "ebenfalls" ein "familien- und kinderfreundliches Politikelement" genannt wird. Meinte doch auch Premier Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation vor einer Woche, beim Ausbau der Kinderkrippenplätze etwa sei "manches geschehen", aber noch nicht genug, und er sah auch weiteren Handlungsbedarf bei der Einrichtung von Ganztagsdiensten an den Schulen.

Von 876 Ende 1998 auf 1388 Ende 2003 stieg laut jüngstem Aktivitätsbericht des Familienministeriums die Zahl der Plätze für bis Vierjährige in staatlich konventionierten Krippen. Plus die Ende letzten Jahres zur Verfügung stehenden 1009 Plätze in Privateinrichtungen und 384 in privat betriebenen gemischten Krippen/Tagesstätten. Plus jene 303 in den derzeit neun Betriebskindergärten bzw. -krippen der EU-Institutionen, von Krankenhäusern und großen Banken. Plus 198 Plätze in staatlich konventionierten und 45 in privaten Garderien, die Kinder stundenweise aufnehmen. Plus weitere 563 Plätze, die für Kinder im Krippenalter in Tagesstätten frei ge-macht werden konnten, weil seit 2001 an den Primärschuleinrichtungen der Umbau zur Ganztagsbetreuung eingesetzt hat - das ergibt eine Summe von 3890 an Plätzen für die Kleinsten. Über alle Altersgruppen und die über Vierjährigen mit betrachtet, legte die konventionierte Kinderbetreuung in den letzten fünf Jahren von 1568 auf 2127 Plätze zu.

Doch: Inwiefern für wieviele Kinder welchen Alters eine Betreuung über wieviele Stunden hinweg gegeben ist, kann das Familienminsterium nicht sagen. "Angestrebt" wird eine flächendeckende Vollzeitbetreuung. Zwischenziel ist es, demnächst eine flächendeckende Halbtagsbetreuung zu gewährleisten.

Allein schon, wenn man bedenkt, dass in Luxemburg pro Jahr über 5500 Kinder zur Welt kommen und Ende letzten Jahres laut Statec die Altersgruppe der bis Vierjährigen 27880 Kinder betrug, erkennt man, dass selbst ein Zuwachs um 53 Prozent bei den konventionierten Krip-penplätzen auf 1388 nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Den Deckungsgrad zwischen der Zahl der Kinder und den in An-spruch genommenen Betreuungsplätzen errechnete das Arbeitsministerium im Herbst letzten Jahres in seinem Jahresbericht zur Umsetzung des nationalen Beschäftigungsplans: 9,98 Prozent bei den bis Vierjährigen und 5,87 Prozent bei den Kindern im Vorschul- und Primärschulalter. In anderen Worten: Nur jedes zehnte Kleinkind beispielsweise wurde in einer Institution, staatlich konventioniert oder privat, betreut.

Abhilfe schaffen sollte die Umsetzung jener Abmachung, zu der Unterrichtsministerin Anne Bras-seur und Familienministerin Marie-Josée Jacobs vor drei Jahren fanden. Die Zuständigkeit für die paraschulische Betreuung von Kindern im Vorschul- und Primärschulalter wurde vom Unter-richts- ins Familienministerium verlegt. Schrittweise sollten die Ge-meinden dazu ge-bracht werden, in den Schulen Ganztagsdienste einzuführen, die über die punktuelle Hausaufgabenhilfe und Verabreichung von Mittagessen hinaus geht: Eine Aufnahme der Kinder sollte bereits vor Schulbeginn möglich sein, mittags kein Kind mehr von den Eltern ab-geholt werden müssen, sondern in den Schulkantinen ein Essen und eine pädagogische Betreuung bis die Schule wieder beginnt garantiert werden, und falls kein Nachmittagsunterricht stattfindet, eine Betreuung möglichst bis gegen 18 Uhr. Die Gemeinden wurden zur Mitarbeit an diesem Projekt geworben mit dem Angebot, die nötige Infrastruktur werde staatlicherseits zu 50 Prozent subventioniert, die Funktionskosten ebenfalls. 

Doch diese Reform, die den Begleiteffekt haben soll, in Kindertages-stätten, die sich um alle Altersgrup-pen kümmern, Plätze für Krippenkinder frei zu machen, kommt langsam voran. Seit 2001 wurden sieben Projekte für die Aufnahme der Kinder bereits frühmorgens realisiert; die Gesamtzahl dieses Angebots stieg von zwölf auf 19 - in 19 von 118 Gemeinden. Die Zahl der Plätze in Schulkantinen wuchs von 2740 auf 4740 - gegenüber 45 820 Kindern im Vor- bzw. Primärschulalter. Und Ende 2003 verfügten erst 13 von 118 Gemeinden über eine integrierte Betreuung in Tagesstätten über die Schulstunden hinaus. 18 neue Projekte sind zurzeit im Bau und weitere 51 werden geprüft. Doch weil sie von Einfluss sind auf die Gemeindefinanzen, kommt auch das Familienministerium nicht umhin zu bilanzieren, dass das in kommunaler Verantwortung realisierte Kinderbetreuungssystem kommunizierenden Röhren gleicht: Während die Zahl der Projekte an den Schulen wächst, blieb zwischen 2002 und 2003 die Zahl der Krippenplätze "stabil". Oder: es stagnierte. Und auf der von der Entente de Foyers de jour ge-führten Warteliste auf einen Betreuungsplatz, die im November 2003 knapp 1500 Anträge enthielt, wurden in knapp 1300 Fällen Krippenplätze nachgefragt. Wenngleich unter diesen Nachfragen sich auch be-reits befriedigte befinden kön-nen: 1300 Anträge sind im-merhin fast soviele, wie es Ende 2003 konventionierte Krippenplätze gab. 

Doch die Frage der Kinderbetreuung ist für die CSV nach wie vor nicht nur eine Frage der praktischen Umsetzung, sondern auch eine ideo-logische. Ein Indiz dafür liefert ein Vergleich des Engagements des Familienministeriums bei der Schaf-fung von Kindereinrichtungen und dem zum Bau von Senioreneinrichtungen. In den letzten fünf Jahren wurden vom Parlament insgesamt neun Gesetze zum Neu- und Umbau von Altersheimen verabschiedet. Weitere sind auf dem Instanzenweg oder in Ausarbeitung. Das Investitionsvolumen wird in dieser Legislatur über 520 Millionen Euro betragen haben, rechnete die Familienministerin Mitte März vor. 

Wenngleich es unseriös wäre, einen Ausbau des "acceuil gérontologique", der außerdem noch unterschiedlichen Bedürfnislagen alter Menschen genügen muss, aufzurechnen gegen die Kinderbetreuung - mit einem Deckungsgrad von 7,13 Prozent an Senioren- und Pflegebetten per 1. Juli 2003 nahm Luxemburg im EU-Vergleich einen Spitzenplatz ein. Die meisten Mitgliedstaaten streben vier Prozent an. Die neu verabschiedeten bzw. in der Diskussion befindlichen Projekte werden bereits in den nächsten Jahren den vom Statec für 2010 geschätzten Bedarf auf dann insgesamt 5480 Betten decken helfen. Mitte 2003 standen 4505 Betten zur Verfügung.

Dieses Vorgehen ist weitaus proaktiver als dasjenige in der Kinderbetreuung. Zumal Statec und Ministerium Bedarf und Deckungsgrad am Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen messen, die Mehrheit der Heiminsassen aber über 75 Jahre alt sind. Und immerhin wurde erst kürzlich wieder betont, wie erstrebenswert und förderungswürdig ein Verbleib im Beruf bis 65 doch sei.

Eine gewisse historische Parallele gibt es bei der Organisation von Kinder- bzw. von Senioren- und Pflegeeinrichtungen. Letztere waren, ehe 1999 durch die Pflegeversicherung ein Markt für die Betreuung alter Menschen entstand, zu einem Großteil ebenso von mit dem Staat konventionierten asbl verwaltet worden, wie es viele Krippen und Kindertagesstätten heute noch sind. Nicht zuletzt zur Absicherung der Seniorenhäuser gründete der Staat vor drei Jahren ein "établissement public", in dem eine beträchtliche Zahl zuvor konventionierter, aber auch kommunal ge-führte Einrichtungen aufgingen.

Wahrscheinlich böte die Gründung einer solchen  Körperschaft die Chance, bei der Kinderbetreuung viel schneller ein akzeptableres Verhältnis zwischen der Population der Jüngsten und den zur Verfügung stehenden Plätzen zu erreichen. Wahrscheinlich ist aber auch, dass ein solches Vorhaben in der christlich-sozialen Partei schwer durchzusetzen wäre. Mitunter begegnet man merkwürdigen Einlassungen sogar dort, wo man sie nicht vermuten würde: So widmet die unter der Federführung des CSV-Abgeordneten Marcel Glesener erstellte Studie Immigration et marché de l'emploi ab Seite 21 ein Kapitel den Frauen. Die Erhöhung der Frauenbeschäftigung dürfe kein Ziel an sich sein, heißt es dort und "la focalisation excessive sur l'augmentation des places disponibles dans les structures d'acceuil des enfants et sur l'adaptation des horaires pour correspondre aux horaires de travail des parents relève d'une vision trop étroite de la problématique". Habe doch die Europäische Wertestudie für Luxemburg ermittelt, dass 40 Prozent der unter 25-jährigen Frauen sich vor allem um Haushalt und Kinder kümmern wollten, und rund 50 Prozent seien der Meinung, dass die Kinder unter einer Berufstätigkeit der Mutter lit-ten.

Wonach es dabei bleiben könnte, dass drei Viertel der Luxemburger Kinder von der Mutter, den Großeltern, weiteren Verwandten oder Nachbarn betreut würden, wie es 1999 das Sozialforschungsinstitut Ceps ermittelt hatte. Ehe die Frage auftaucht, wer denn die verbleibenden 25 Prozent der Kinder betreut, wenn die bestehenden Einrichtungen nur einen Deckungsgrad je nach Altersgruppe zwischen sechs und zehn Prozent erreichen, sei mitgeteilt, dass es ja noch Tagesmütter gibt. 50 sind es offiziell, denn wer mehr als drei Kinder entgeltlich be-treut, benötigt eine Zulassung durh das Familienministerium. Die 50 aber seien "mit Sicherheit nur die Spitze eines Eisbergs", wird im Ministerium vermutet. 

Die gute Nachricht ist immerhin die, dass alle Parteien in ihren Wahlprogrammen sich für die Schaffung eines Statuts für Tagesmütter aussprechen. Auch die  CSV. Das ist konsequent: hatte doch Arbeitsminister Juncker 1995 gemeint, eine Frau, die wie seine eigene Mutter drei Kinder großgezogen hat, sei ohne weiteres für die Kinderbetreuung kompetent. Und was sich durch staatlichen Einfluss nicht bereitstellen lässt, das regelt der Markt schon.

 

 

 

 

Peter Feist
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