Reform der Krankenpflegerausbildung

Schwester!

d'Lëtzebuerger Land du 14.06.2001

In anderthalb Wochen will Anne Brasseur sich äußern. Genauer nach dem 26. Juni. Nicht eher. Nicht gegenüber der Presse und nicht gegenüber der parlamentarischen Unterrichtskommission. Bis dahin erwartet die Unterrichtsministerin die endgültigen Stellungnahmen zu einem in ihrem Ministerium am 10. Mai fertig gestellten sechsseitigen Papier, das mit Ajustements des études des professions de santé au Luxembourg überschrieben ist.

 

Doch schon jetzt bläst der Ministerin starker Wind ins Gesicht - die meisten der von ihr Befragten tun ihre Meinung nicht in aller Ruhe auf dem Amtsweg kund, sondern öffentlich. Hatten OGB-L und LCGB das Projekt gemeinsam mit der Entente des hôpitaux bereits vor einem Monat im Comité permanent de consultation, das Unterrichts- und Gesundheitsministerium zu Ausbildungsfragen im paramedizinischen Bereich berät, abgelehnt, brachten die beiden Gewerkschaften es vor einer Woche über Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit. Wenige Tage vorher hatte sich die Personalvertretung des Lycée technique pour professions de santé (LTPS) negativ geäußert. Die Berufsverbände der Krankenschwestern und -pfleger schließlich beriefen gestern gemeinsam mit dem Schülerkomitee des LTPS gar eine Pressekonferenz ein, um ihre Ablehnung zu erklären. Mit am Tisch saßen auch Vertreter der Association luxembourgeoise des enseignants pour professions de santé, einer Neugründung eigens vor vor dem Hintergrund des Reformvorschlags aus dem Hause Brasseur.

 

Die Diskussion um die Qualität der medizinischen Versorgung könnte sich damit um eine Facette erweitern. Wie bitteschön, ist Ihr Aus- und Weiterbildungsstand? ­ Dass die Patienten ihren Ärzten diese Frage künftig stellen sollten, hatte Gesundheitsminister Carlo Wagner vergangene Woche bei der Vorstellung der Studie über die Gallenblasenoperationen gemeint. Glaubt man dem Projekt für die Ausbildungsanpassungen aus dem Unterrichtsministerium, ist diese Frage auch gegenüber den Schwestern und Pflegern angebracht. Zumindest gegenüber den jungen, die soeben ihre Ausbildung beendet haben. Doch während Wagners Qualitätsempfehlung geharnischten Protest aus der Ärzteschaft hervorrief, zieht keiner der Beteiligten die Einschätzung des Unterrichtsministeriums in Zweifel, "que le jeune diplômé a acquis un meilleur bagage théorique et méthodologique, mais qu'au niveau du savoir-faire pratique il reste un novice". Umstritten ist nur der Weg zur Lösung des Problems.

 

Um 942 Stunden soll die Ausbildung zur Krankenschwester bzw. zum Krankenpfleger aufgestockt werden. Anstelle derzeit 3 444 sollen es künftig 4 386 Stunden sein, davon allein 2 658 in der klinischen Praxis. Womit einerseits darauf reagiert wird, dass Krankenhaus-Entente und Gewerkschaften seit anderthalb Jahren monieren, Absolventen des LTPS müssten noch sechs bis acht Monate lang angelernt werden, ehe sie eigenverantwortlich auf die Patienten losgelassen werden könnten. Zum anderen aber ist mal wieder europäischer Druck ein Auslöser für nationalen Reformeifer: Seit 1977 schreibt eine EU-Direktive über die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen vor, dass Krankenschwestern und -pfleger eine Ausbildung absolviert haben müssen, die sich in 4 600 Stunden oder drei Jahren bemisst. Auf dieser Basis funktionierte die Anerkennung der Diplome bislang weitgehend problemlos; was nicht zuletzt für Luxemburg wichtig war, das Ende letzten Jahres sein paramedizinisches Personal - inklusive spezialisierter Berufe wie Hebammen oder Laboranten sowie Pflegehilfskräfte - zu rund 50 Prozent aus Grenzgängern deckte.

 

Seit Oktober 2000 aber ist abzusehen, dass die EU-Kommission 4 600 Ausbildungstunden zur einzigen Prämisse für die europaweite Gültigkeit der Abschlüsse machen wird. Absolventen des LTPS wären damit auf dem grenzenlosen Binnenmarkt alles andere als mobil. "Und es muss ja", sagt Ben Wahl vom LCGB, "nicht so bleiben, dass die Gehälter hierzulande im Vergleich zum nahen Ausland um so vieles höher sind, dass unsere Leute schon deshalb hier bleiben."

 

Grenzenlos mobil wären die LTPS-Abgänger allerdings auch nach 4 386 Stunden nicht. Warum im Ajustement-Projekt nicht 4 600 Stunden vorgesehen sind, möchte Raymond Straus, Regierungsrat im Unterrichtsministerium, nicht erklären. Das Projekt sei ja nur eine Diskussionsgrundlage. Heiß diskutiert wird unterdessen bereits die Weigerung des Ministeriums, die Ausbildungszeit am LTPS zu verlängern: der Stundenzuwachs von knapp 30 Prozent soll auf die derzeitigen drei Ausbildungsjahre umgelegt werden, ein Großteil der klinischen Praxisausbildung künftig in den Ferien stattfinden.

 

Dass dadurch eine Überlastung der Schüler droht, ist die einhellige Meinung der Gewerkschaften, des Schülerkomitees und der Lehrkräfte am LTPS. Die Ausbildung lasse schon jetzt zum Teil kaum Platz für ein Privatleben der Schüler, meint Alois Schumacher, Professor und Präsident der Personalvertretung. Wichtig wäre nicht nur der Ausbau der Praxisausbildung, sondern auch mehr Zeit für die soziale und psychologische Betreuung der Schüler: "Sie sollen den Patienten zeigen, wie man mit Stress umgeht, leiden aber selber stark darunter." André Roeltgen, Zentralsekretär beim OGB-L, sieht darüberhinaus die Betreuung während der Praxis-Ferienzeit nicht gewährleistet: "Üblicherweise sind die Professoren an der Praxisausbildung als Betreuer beteiligt. Was soll werden, wenn sie Schulferien haben?" Ob genügend viele Betreuer seitens der Kliniken zur Verfügung stehen könnten, sei ebenfalls ungewiss. 

 

Roeltgen will von so manchen dieser "Infirmiers de réference" gehört haben, die Verlagerung der Praxisausbildung in die Ferien sei ihrer Meinung nach ein brauchbarer Weg, die Ausbildung am LTPS derart unattraktiv zu machen, "dass die Schule schließen kann". Dass die Schüler ihrerseits nicht bereit sind, in den Ferien in den Kliniken zu arbeiten, hat Anny Hofmann, Präsidentin des Schülerkomitees, in einer Fragebogenaktion festgestellt: "Kein Wunder, wir haben schon so genug zu tun. Außerdem sind wir Schüler und haben Anspruch auf unsere Ferien." Abgelehnt werde deshalb auch der Vorschlag aus dem Unterrichtsministerium, den Schülern im letzten Ausbildungsjahr, in dem das Gros der klinischen Praxisstunden konzentriert werden soll, eine "Indemnisation" auszuzahlen: "Das ist ein Lockmittel." Einverstanden sind die Schüler dagegen mit einer Verlängerung der Ausbildungszeit.

 

Die heftige Gegenreaktion hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die letzte Ausbildungsreform erst fünf Jahre zurückliegt und ihr jahrelange Debatten voraus gingen. Gegen Ende der 80-er Jahre hatte die Zahl der Schwesternschülerinnen und Pflegerschüler bedrohlich in Richtung Null tendiert. 1995 wurde der Ausbildungsgang per Gesetz aufgewertet und mit einer Doppelgleisigkeit versehen, die in dem spezialisierten technischen Lyzeum nicht nur den Berufsabschluss bietet, sondern auch das technische Abitur und verschiedene Spezialisierungsmöglichkeiten - zur Hebamme, zum Fachpfleger für Psychiatrie, zur Fachkrankenschwester für Anästhesie und Reanimation oder für Pädiatrie, zum Assistenten für Chirurgie. Umfangreiche Kampagnen während der letzten sechs Jahre führten dazu, dass die Zahl der an einer Ausbildung am LTPS Interessierten sich mittlerweile wieder auf einem recht hohen Niveau von nahe 500 jährlich eingependelt hat.

 

Für die Kritiker des Ajustement-Projekts wäre eine Verlängerung der Ausbildung die logische Fortsetzung der Reform von 1995. Luxemburg würde sich damit in gute europäische Gesellschaft begeben. In die mit Frankreich etwa, wo die Ausbildung einheitlich vier Jahre dauert und von wo heute schon mehr als ein Drittel des Grenzgängerpersonals kommt. Und schon meinen so manche Schüler am LTPS, erzählt Anny Hofmann, sollte die Reform so kommen, wie im Ajustements-Papier angedeutet, sei es gescheiter, seine Ausbildung gleich im Ausland zu machen.

 

Dass Luxemburg eine qualitativ hochwertige Ausbildung braucht, wird nicht zuletzt durch die Tatsache unterstrichen, dass das Arbeitskräftereservoir im nahen Ausland abnimmt. Im Gesundheitsministerium gilt es mittlerweile als so gut wie ausgeschöpft. Wie groß der Rekrutierungsradius geografisch schon geworden ist, zeigt eine dem Gesundheitsministerium vorliegende Beschwerde des Direktors der Universitätsklinik Namur, Luxemburg würde von dort dringend benötigte Arbeitskräfte fortlocken.

 

Eine Ausbildungsverlängerung hätte allerdings auch finanzielle Konsequenzen. Gesprochen wurde darüber im Konsultationskomitee des Unterrichts- und des Gesundheitsministeriums noch nicht, und von Ministeriumsseite wird jeder Kommentar zur Frage abgelehnt, ob das Festhalten an drei Ausbildungsjahren mit den komplexen tarifvertraglichen Wechselwirkungen zwischen öffentlichem Dienst und dem Gesundheits- sowie dem Sozial- und Pflegebereich zu tun haben könnte. Betrüge die Ausbildungsverlängerung jedoch plus ein Jahr, müssten die Absolventen entsprechend höher entlohnt werden; theoretisch stiege ihre Einstufung von Bac+1 auf Bac+2. Noch aber ist auch die Bac+1-Einstufung nirgendwo gültig: das privat organisierte Gesundheitswesen orientiert sich in seiner Laufbahnentwicklung an der der Staatsbeamten. Alles weitere regeln Kollektivverträge. Der letzte datiert von Anfang Februar dieses Jahres und fiel zur Zufriedenheit aller Beteiligten aus. Ungeachtet der Tatsache, dass auch die als Staatsbeamten beschäftigten Paramediziner - vor allem am Neuropsychiatrischen Krankenhaus in Ettelbrück - nicht nach einem "Bac+" eingestuft sind, sondern gemäß einem Gesetz von 1992 über die Aufwertung der medizinischen Berufe lediglich Korrekturen im Punktwert, Zuschläge für Sonntags- und Nachtarbeit und Essenszulagen erhalten. Eine Korrektur ist allenfalls durch die von CSV und DP im Koalitionsprogramm angekündigte allgemeine Gehälterrevision im öffentlichen Dienst absehbar.

 

Aber nicht nur die Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Gesundheitsektor sind komplex. Auf die gleiche Weise folgt der gesamte sozio-edukative und Pflegebereich (abgekürzt: SAS) in seiner Gehälterentwicklung dem öffentlichen Dienst. Werden dort Kollektivverträge verhandelt, orientieren sich die Gewerkschaften stets an auch der Entwicklung im Gesundheitswesen, wo seit Jahren die Übernahme von beim Staat geltenden Gehälterverbesserungen besser funktioniert als im SAS-Sektor. So dass das Spitalwesen als Vorbild dient.

 

Und daher einiges dafür spricht, dass das Unterrichtsministerium mit seinem Beharren auf drei Jahren Ausbildungszeit für das Krankenpflegepersonal größeren Finanzdebatten vorbauen will. Schließlich steht die Neuverhandlung des Gehälterabkommens im öffentlichen Dienst vor der Tür, sind die Kollektivvertragsverhandlungen im SAS-Bereich Mitte April vor dem Schlichtungsamt gelandet, und eine Streikdrohung des Erzieher- und Pflegepersonals ist noch immer gültig. Obendrein hat Gesundheitsminister Wagner letzte Woche angedeutet, die 1999 beschlossenen Beitragserhöhungen für die Krankenversicherung könnten eventuell rückgängig gemacht werden. Nicht, dass diese Äußerung am Ende vorschnell war.

 

Die Gewerkschaften versichern, hinter ihrem Eintreten für eine Ausbildungsverlängerung am LTPS verberge sich nicht die Absicht, die Lohndiskussion zu verschärfen. Es gehe nur um die Qualität im Gesundheitswesen. Zumal das Ajustement-Projekt noch eine weitere Neuerung vorsieht: sämtliche Spezialisierungsstudien nach Erlangung des Infirmier-Diploms sollen einheitlich auf ein Jahr begrenzt werden. In der Spezialisierung Pädiatrie und Psychiatrie gilt diese Regel schon jetzt, für chirurgische Assistenten aber beträgt sie 18 Monate, für Anästhesie/Reanimation und Hebammen zwei Jahre. Hinzu kommt, dass nach der neuen Lesart mit einem Jahr ein neunmonatiges Schuljahr gemeint ist, nach der noch geltenden Regelung dagegen ein Kalenderjahr.

 

Ein Vorhaben, das insbesondere die Schüler am LTPS ablehnen. Damit werde nicht nur die Ausbildung abgewertet, meint Schülerkomitee-Pràsidentin Anny Hofmann, auch die EU-weite Mobilität, um die es doch gehen soll, sei nicht garantiert. Am schwersten wären davon die angehenden Hebammen betroffen: Um für ihre Spezialausbildung Zeit frei zu schaufeln, soll nach Vorstellungen des Unterrichtsministeriums schon das dritte Jahr der Grundausbildung zur Spezialisierung genutzt werden. Mit der Folge, dass eine Hebamme keinen Abschluss als Krankenschwester mehr bekommen soll. Dabei schreibt die sektorielle EU-Direktive für Hebammen diesen Anschluss plus wenigstens 18 Monate Spezialausbildung vor.

 

Peter Feist
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