50 Jahre die ganze Welt

Und dann das ganze Europa noch

d'Lëtzebuerger Land vom 07.01.2004

Vier vermummte Gestalten rücken eng zusammen in der winzigen Kabine. „Jetzt ist er zurückgetreten“, raunt einer seinem Nebenmann zu. „Woher weißt du das?“ gibt der zurück. Verschwörerisches Klopfen auf die Jackentasche: „Radio“. „Und? Westi?“ – „Nein. Susi.“ - „Moment. Entschuldigen Sie. Haider ist zurückgetreten?“ schaltet sich ein bis dahin Unbeteiligter mit fremdem Akzent ein. „Heute nacht, ja. Und Susanne Riess-Passer ist seine Nachfolgerin.“ „Aber dann ist doch alles gut.“ – „Schaun wir mal. Ich trau dem nicht. Aber sagen Sie: woher kommen Sie? Aus Deutschland sind Sie nicht?“ – „Nein“, wehrt der Vermummte am Fenster ab, „Luxemburg“.
„Haider kennen Sie natürlich. Ein schönes Bild geben wir ab“, seufzt der Erste, und ein lebhaftes Gespräch entspinnt sich, während die Gondel mit den vier Schifahrern sanft über die schneebedeckten Hänge über dem Großarltal schwebt. Über Jörg Haider und die Freiheitlichen, über den Waldheim-Komplex und die geheime Sehnsucht nach alter KuK-Größe, über Ausländerfeindlichkeit und Sachertorte, Apfelstrudel und Burgtheater, Linkswalzer und Rechtsruck. Der Luxemburger will irgendwann den Spieß umdrehen. Weit kommt er nicht. Bis zu den Banken und den Herzogs, dann ist Ende. „Schengen“ wirft der weitgereiste Sportler mit dem lustigen Akzent seinen neuen österreichischen Sportsfreunden noch zu. Ach ja, fällt dem Beredteren der Beiden ein, und dann das ganze Europa noch. Viele Bürokraten, haha, die gibt es dort doch sicher auch?
Nur eine der Vermummten spricht während der ganzen Fahrt kein Wort. Hört dem luxemburgisch-österreichischen Dialog zu, schaut aus dem Fenster, und träumt. Den alten Journalisten-Traum von der großen weiten Welt. Augen aufmachen und die große Wahrheit herausfinden über die wirklichen Hintergründe der großen Weltpolitik. Den Großen dieser Welt auf den Zahn fühlen. Und dann ist die große weite Welt ein kleines, leicht skurriles Land mitten in Europa, mit vielen Bergen und ohne Meer, mit großer Vergangenheit und großer Tradition, die Großen sind eine Riege windschnittiger Napoleons.
Ihren Zahn zum Drauffühlen bieten die Anderen. Ein kleiner slowakischer Bauer, der sein Leid über die Trennung zwischen Tschechien und der Slowakei klagt und über die Schikanen an der Grenze. Der Schriftsteller aus Sarajevo, der in Wien über die seine Probleme berichtet, in seiner Heimat zu publizieren. Das rumänische Künstlerpaar, für das Wien das Tor zum Westen war, als der Vorhang noch eisern und das Interesse an Kunst von drüben noch nicht opportun, die nun witz- und spottreich anlaufen gegen jegliche „ihr wart doch immer unsere Freunde“-Umarmungen. In diesen Momenten ist die kleine Welt die Große.
Durch die schwebt schwankend ein gelbe Gondelkabine mit heftig diskutierenden Menschen, während ein paar hundert Kilometer östlich ein politischer Wirbel tobt, der Österreich mit einem Mal ins Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit rückt, während über die blauschwarzen Wiener Köpfe hinweg europäische Sanktionen gestrickt und Koalitionen geschmiedet werden. Dass die in anderen Fällen, italienischen zum Beispiel, später nicht zustande kommen, ist noch nicht abzusehen an diesem Dienstagmorgen bei der ersten Auffahrt zu einem herrlichen Schitag. Denkt sich also die Vermummte in der Gondel, freut sich über den schönen Schnee und über Stoff für die nächste Land-Ausgabe und vor allem: dass es das wirklich gibt – Luxemburger, die sich für das kleine Land zwischen Donau und Drau, Marchfeld und Karawanken interessieren.
PS: Vielleicht war alles auch ganz anders. Vielleicht ist alles nur erstunken und erlogen. Das kann passieren, manchmal, dass Fantasie und Wahrheit durcheinander geraten, auf der Suche nach einer Geschichte. Aber, Hand aufs Herz: Die Gondelbahn in Grossarl gibt es, es gab auch vier Vermummte und ein lebhaftes Gespräch an jenem denkwürdigen 29. Februar vor fast vier Jahren. Haider gibt es auch. Es gab ihn zumindest, damals. Ob es auch den mitteilungsfreudigen Luxemburger in der Gondel gab, wird für immer dessen Geheimnis bleiben. Und meines. Es lebe der kleine Unterschied zwischen dieser und jener Seite des Blattes, bei allem Respekt vor Demokratie und Menschenrechten. Ein bisschen Flunkerei muss manchmal sein in dieser großen kleinen Welt.

Irmgard Schmidmaier
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