1. Mai

Tag der, hm, was?

d'Lëtzebuerger Land vom 06.05.2016

An diesem ersten Mai wurden gleich zwei Heilige gefeiert. Zwei Heilige, an die kaum noch jemand glaubt. Oder doch? Gibt es sie wirklich? In gewissen Abständen werden Bilder abgestaubt und poliert, Sprüche skandiert, es beruhigt einfach. Zugleich belebt oder wiederbelebt es ein bisschen, sich mit seinesgleichen zusammen zu rotten, vertraute Laute zu hören, das eine oder andere Tränchen zu vergießen. O Mamm, léif Mamm. Die Internationale Solidarität. Fäuste und Rosenkränze. Es ist doch immer wieder schön. Fahnen und Bildnisse und Plakate werden herum geschleppt, man kann hinterher laufen und dazu was murmeln oder chanten.

Ein Teil der Bevölkerung braucht solche Bräuche, immer noch, schon wieder. Sie haben alles überlebt, Freizeitindustrie, Wellness. Pradapartys und Kunstmessen allein stopfen das Sinnlosloch nicht, darauf weisen alle Expert_innen hin. Die Zusammenhänge werden brüchig, die Menschlein zusammenbrüchig. Und dann diese Schere, die ewige Schere. Wie weit kann so eine aufgehen?

Gut also, dass es noch Gesänge und Fürbitten gibt. Manch einer zaubert Sankt Marx oder Sankt Che aus dem Hut, tut auch immer wieder gut.

Vielleicht helfen ja die uralten Beschwörungsfloskeln und Wiederbelebungsrituale? Und die alte Heilige Arbeit ersteht irgendwann wieder auf, alles wird gut, wie es nie war. Die Menschen sind arbeitsam, aber nicht versklavt, die Roboter_innen gehen brav nach Hause und die fleißigen Fließbandarbeiter_innen nehmen wieder ihren angestammten Platz ein. Alle arbeiten, nicht bis zum Umfallen, nur bis das Haus fertig ist, also bis zum Herzinfarkt. Die Arbeiter haben rechtschaffene Schwielen an den Händen, nach der Schicht schauen sie nach den Kaninchen oder in die Glotze. Die Arbeitgeber geben die Arbeit gönnerhaft her, es gibt genug für alle. Totengräber und Klofrauen sind arbeitslebenslänglich angestellt. Alles ist angenehm geregelt, der Kapitalismus und der Katholizismus benehmen sich einigermaßen. Es gibt Kirchen im Dorf und noch ein paar hochrote Hochöfen, es gibt Werktage und Gewerkschaften und Identitäten, der Arbeiter ist sogar stolz, ein Arbeiter zu sein.

Damals konnten kleine Leute sich noch vorstellen, yes, we can, selber mal Dicke zu werden. Aber in einer Zeit, in der die Wegwerfgesellschaft sich endlich brav selber entsorgt, das Humankapital ist aber auch so prekär, eine totale Fehlinvestition, hilft uns das Poesiealbum aus der heilen Arbeitswelt, Klassenkampf light einmal im Jahr inklusive, leider nicht mehr wirklich weiter.

Damals hatte der Klassenfeind wenigstens noch ein Gesicht. Der kleine Mensch wusste, wer ihn ausbeutete. Wer weiß jetzt schon noch, wer ihn nicht mal mehr nicht ausbeutet? Wer oder was ist so ein Konzern? Wir können ihn nicht sehen und nicht riechen, er ist überall und nirgends. Es gehen fürchterliche Gerüchte um. Wo er überall dahinter steckt oder drin steckt und unter welchen Decken mit wem. Bestimmt in den Chemtrails, das ist gewiss.

Wer ist der Konzern, wo sind die Konzerne, die abwechselnd diesen oder jenen Arbeit geben, aber nur Auserwählten in auserwählten Ländern, an sorgfältig ausgewählten Standorten, die zwar nie lange Bestand haben. Natürlich nur denen, die alles dafür tun, alles zu tun.

Aber was, grübelt die Suchmaschinistin, ist überhaupt Arbeit? Puh, kompliziert, das rauszufinden, echt viel Arbeit. Nicht überraschend, die erste Konnotation: Mühe, Not. Was soll daran toll sein? Warum kreist alles um diesen Götzen? Klar, man muss die Hütte fegen oder die Kuh schlachten, es gibt eben Zwänge, falls man existieren will und nicht exexistieren. Man muss sich hin und wieder schinden, auch Zeilen schinden. Arbeitsscheues Gesindel war einst ein beliebtes Schimpfwort, heute drückt man das pädagogischer aus. Aber ist Arbeitsscheu nicht der allerallernatürlichste Reflex? Wie kommen Menschen eigentlich darauf, freiwillig aufzustehen und dann auch noch einer Arbeit nachzugehen? Sie auch noch zu suchen? Ist das nicht total pervers? Eine Tätigkeit, die ja nicht unbedingt davonläuft?

Und falls doch, umso besser.

Michèle Thoma
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