50 Jahre Luxemburger Modell

Mutatis mutandis

d'Lëtzebuerger Land du 07.01.2004

Als vor einem halben Jahrhundert die erste Land-Ausgabe erschien, wusste man im Lande Luxemburg noch nichts vom Fernsehen – Télé Luxembourg wurde erst im Jahr darauf geboren – und auch nicht viel mehr von dem Mann namens Pierre Werner, der eine Woche zuvor in die Regierung berufen worden war, um sich um die Finanzen und die Armee zu kümmern.

Heute ist die europaweit legendäre Politfigur Pierre Werner bereits Geschichte und das Fernsehen eine Selbstverständlichkeit. Radio und Television haben sich in die Presselandschaft gedrängt und eine neue Art der Berichterstattung durchgedrückt: schneller, kürzer, oberflächlicher. Da sah schon so mancher das Ende der Printmedien heraufdämmern, die, aufwendig hergestellt und verteilt, nicht nur der Information hinterher hecheln, sondern deren Lektüre auch noch Zeit raubend und intellektuell strapaziös ist.

Aber es gibt sie trotzdem immer noch: die Wort, Tageblatt, Journal, Land und Revue. Ja, es sind in der Zwischenzeit sogar noch ein paar nationale Blätter hinzugekommen, die sich neben der staatlichen Pressehilfe offenbar auch eines gewissen Leserinteresses erfreuen, ansonsten es sie ja wohl nicht gäbe. Wie interessierte, aber nicht implizierte Zuschauer, die ein Landschaftskaleidoskop an sich vorbeiziehen lassen, haben unsere Zeitungen ein halbes Jahrhundert Ereignisse, Entwicklungen und Umwälzungen als aufmerksame, mal kritische, mal parteiische Beobachter verfolgt, ohne dabei selber in die Mühle der Mutation zu geraten.

Ein halbes Dutzend Staatsminister haben sie in diesen 50 Jahren begleitet, die einen kürzer – Bech (vier Jahre), Frieden (ein Jahr) –, die andern länger – Werner (20 Jahre), Thorn (fünf Jahre), Santer (zehn Jahre), Juncker (neun Jahre und wohl noch mehr). Die Premiers kamen und gingen und ähnelten sich kaum.

Pierre Werner, der monetäre Euro-Visionär, trat sein Amt noch im Habitus eines Hohenpriesters des Obrigkeitsstaats an, lud höchstens einmal im Jahr zur Zelebrierung einer Pressekonferenz – anlässlich der Budgetvorstellung –, nutzte ohne Aufhebens sein Fachwissen, um sein Land in einen Finanzplatz nach Schweizer Art zu verwandeln und verabschiedete sich schließlich mit einem unternehmerischen Bravourstück, das Luxemburg zum größten Satellitenbetreiber der Welt machte.

Ganz anders, weil entschieden extrovertierter war Nachfolger Gaston Thorn. Mit seiner nicht nur rhetorischen Gewandtheit sollte er das Kunststück fertig bringen, die traditionell stärkste Partei des Landes zumindest vorübergehend aus dem Regierungssattel zu heben, was ihm erlaubte, mit seinem sozialistischen Koalitionspartner für eine gesellschaftspolitische Auffrischung zu sorgen. Thorn war Premier, Außenminister, Uno-Vollversammlungspräsident und Europakoryphäe zugleich, ein medienbewusstes Allroundtalent, dessen Staatsministerkarriere nur deshalb bereits nach einer Legislaturperiode ihr Ende fand, weil gegen die christlichsoziale Übermacht offenbar doch kein Kraut in diesem Land gewachsen ist.

Werner kam kurz wieder, entpuppte sich als ein zum zeitgemäßen Politiker geläuterter Staatsmann, der es sich und seinem Lande noch einmal zeigen wollte (und sollte), bevor er, aus freien Stücken und in staatsmännischer Pracht, ab- und in die Geschichte eintrat.Nachfolger Jacques Santer übernahm kein bequemes Erbe, musste er sich doch vorrangig mit den schmerzlichen Auswirkungen der Stahlkrise herumschlagen und dem wirtschaftlich gebeutelten Kleinstaat neue Perspektiven öffnen. Aufbauend auf die Wernersche Vorarbeit, konnte der stets joviale und jeglicher Berührungsängste bare Premierminister den Aufbau des Finanzplatzes nachdrücklich und -haltig vorantreiben, wobei ihm freilich die Fiskalpolitik der Nachbarländer tatkräftig zu Hilfe kam.

Vom deutschen Kanzler Kohl zu Höherem, nämlich zu Europäischem berufen, musste Jacques Santer Anfang 1995 den Stab an seinen Finanz- und Arbeitsminister Jean-Claude Juncker weiterreichen. Dessen zäh-verbissener Wissens- und Detaildrang kontrastierte mit der beinahe genialen Leichtigkeit, mit der sein Vorgänger den Amtsgeschäften nachgegangen war. Im Gegensatz zu diesem, der überall ein gern- und oft gesehener Gast war, ließ Nachfolger Juncker sich nur selten bei gesellschaftlichen Ereignissen blicken und vertiefte sich stattdessen ins Aktenstudium. Das brachte dem neuen Premier und Finanzminister schnell den Ruf eines Bankenverächters ein, weil der einheimische Finanzmikrokosmos plötzlich die Tuchfühlung mit dem Regierungschef vermisste und dies als mangelhafte Wertschätzung des obersten Regierenden gegenüber der neuen Nährmutter der Nation wertete. (Würde man Jean-Claude Juncker auf diese Feststellung ansprechen, erhielte man wohl als Antwort die Frage, was denn jetzt den Bankern wichtiger wäre: des Premiers Cocktailpräsenz oder eine beherzte Steuererleichterung wie die von vor drei Jahren). 

Die spärliche Präsenz auf der lokalen Bühne macht Jean-Claude Juncker freilich mehr als wett durch seine Europaauftritte, dank derer er es zum wohl bekanntesten Luxemburger aller Zeiten auf dem internationalen Parkett, zum offenbar beliebtesten Politpromi im benachbarten Deutschland und zum Stolz seiner Landsleute brachte, die ihm bei soviel kleinstaatlicher Ausstrahlung weder seinen verbalen Sarkasmus noch seine politischen Denksprünge verübeln können.

Das zurückliegende halbe Jahrhundert war freilich nicht nur die Zeit der Werner, Thorn, Santer und Juncker. Es war – mit ihnen und zum Teil auch durch sie -– die Ära der institutionellen Machtverschiebung, des Übergangs vom Stahl- zum Bankenland und des Aufstiegs zu einer blühenden Hochkultur hierzulande.Die Machtverschiebung vollzog sich auf gleich zwei Ebenen. Zum einen hat die, wenn auch zögerliche, so doch unaufhaltsame europäische Integration eine Verlagerung des Entscheidungsschwerpunkts von der nationalen auf die europäische Ebene gebracht, was notgedrungen mit einem nationalen Souveränitätsschwund einhergeht. Wir Luxemburger glauben zwar immer noch, Herr im eigenen Haus zu sein, und haben doch längst schon in der Praxis unsere gesetzgeberische Hoheit an die Brüsseler Bürokratie abgetreten. Diese Tatsache ist offenbar genau so gewöhnungsbedürftig wie die Notwendigkeit, unsere Strukturen und Ablaufprozesse darauf abzustimmen, unumgänglich geworden ist.

Eine weitere institutionelle Verschiebung gab es im Lande selbst mit dem viel gepriesenen Luxemburger Modell. Als schnell wirkendes Notinstrument zur Bewältigung der Stahlkrise erfunden, hat sich die Dreierkonferenz aus Regierung, Patronat und Gewerkschaften in der Folge als äußerst zählebig erwiesen, besteht sie doch ein Vierteljahrhundert später immer noch fort, obwohl sie ihren eigentlichen Zweck längst erfüllt hat. Dies ist um so erstaunlicher, als die Tripartite einen nicht unwesentlichen Einschnitt in die verfassungsmäßige Ordnung unseres Staates darstellt und einer Teilentmachtung der gewählten Volksvertretung gleichkommt. Wenn die Dreierkonferenz sich denn nicht von selber mit ihrer Themeninflation (Findel-Ausbau, Budgetkosmetik usw.) totläuft, und wenn auf der andern Seite das Parlament sich nicht endlich dazu aufrafft, sich seiner konstitutionellen Aufgabe voll gewachsen zu zeigen, dann wird die Schattenmacht Tripartite wohl auf immer ihren Platz bei uns finden.

Im Gegensatz zur Tripartite gehört die Stahlkrise der Vergangenheit an. Die Art und Weise, wie sie gemeistert wurde, ist eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte, denn niemand hätte Anfang der 80-er Jahre davon zu träumen gewagt, dass nach allem, was da über unsere Stahlkocher hereinbrach, das weiße Haus an der Freiheitsavenue einmal zur Schaltzentrale des größten Stahlkonzerns der Welt würde. Das hilft, den Verlust eigener Stahlstandorte zu verschmerzen, deren Rolle als Ernährer der Nation ohnedies längst von einem andern Wirtschaftsbereich übernommen wurde. Gemeint sind die Banken, die sich als Töchter ausländischer Kreditinstitute ab der zweiten Hälfte der 60-er Jahre in Luxemburg niederließen und mit ihrer erfolgreichen Tätigkeit erst am Euromarkt, dann im Privatkundengeschäft und schließlich in der Investmentfondssparte, dem Land ein goldenes Wirtschaftszeitalter bescherten. 

Schon werden erste Parallelen zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang der Eisenindustrie und dem Bankplatz gezogen, der nach Jahren des ungestümen Wachstums und vor dem Hintergrund schwindender Standortvorteile in eine bedächtigere Entwicklungsphase getreten ist. Aber noch gibt es die Banken in Luxemburg und ihre, wenn auch spärlicher fließenden Beiträge zum Staatshaushalt. Nicht zuletzt ihnen ist denn auch die imposante Gebäudeinfrastruktur zu verdanken, die in den letzten Jahren in Luxemburg entstand und das Gesicht der Stadt, vor allem die Skyline des lange Jahre hindurch brach liegenden Kirchberg-Plateaus neu prägte. Dabei bekam die Kultur einen nicht geringen Anteil ab, wie es die Tatsache belegt, dass wir heute viermal mehr Museen, Theater und Konzertsäle als früher haben. Womit einmal mehr der Beweis erbracht ist, dass das Geld der Kultur keinesfalls abträglich ist, ganz abgesehen davon, dass so manche Demokratisierungsbemühungen im Bereich der Kunst ohne Mäzene und Sponsoren glatt zur Illusion würden.

All das haben die Leute vom Land in den 50 Jahren beobachtet und beschrieben, kommentiert und kritisiert und mitunter auch gelobt. Das Erstaunliche daran ist zweifellos die Konstanz, mit der das Land dabei zu Werke ging und die sich deutlich von der Gesamtentwicklung des Umfelds in diesem halben Jahrhundert abhebt. Gewiss hat auch das Land sein Aussehen im Lauf der Zeit verändert, hat dem Zeitgeist gehuldigt mit einem neuen grafischen Look, und versucht, auch in der Aufbereitung des Inhalts neue Wege zu gehen. Aber eigentlich ist alles beim alten geblieben: beim Triptychon aus Politik, Wirtschaft und Kultur, bei der Gründlichkeit der Analyse, bei der objektiven Faktfindung, beim kritischen Ton und bei der verständlichen Schreibe, mit der man dem Leser nicht zu imponieren, sondern ihn lediglich zu informieren versucht. So haben die Land-Väter Carlo Hemmer und Leo Kinsch gewollt. So haben es ihre Nachfolger während eines halben Jahrhunderts gehalten. Und so soll es, mutatis mutandis, weiter gehen.

Lucien Thiel
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