Die EU-Kommission will mit dem Verkehrs-Weißbuch die Weichen für die Verkehrspolitik der kommenden zehn Jahre neu stellen. Ein Interview mit EU-Verkehrskommissar Siim Kallas

„Die Straße nicht vernachlässigen“

d'Lëtzebuerger Land vom 27.01.2011

d’Land: Die EU-Kommission ist dabei, die Weichen für die EU-Verkehrspolitik bis 2020 zu stellen. Worauf muss sich der Verkehrssektor einstellen?

Siim Kallas: Mit dem Weißbuch zur künftigen EU-Verkehrspolitik soll klar unterstrichen werden, dass der Gütertransport entscheidend zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäi-schen Union beiträgt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher die Schaffung eines integrierten europäischen Verkehrssystems, in dem für alle Verkehrsträger die bestmöglichen Rahmenbedingungen für ihre individuelle Entwicklung geschaffen werden.

Gehört die bisherige Strategie der Verkehrsverlagerung von der Straße damit endgültig der Vergangenheit an?

Ich persönlich werde mich für den jeweils umweltfreundlichsten, aber auch effizientesten Verkehrsträger einsetzen. Ungleichgewichte und unfaire Rahmenbedingungen gilt es für alle Verkehrsträger gleichermaßen zu beseitigen. Vorteile für den einen dürfen aber nicht aus Nachteilen für einen anderen Verkehrsträgers resultieren. Es kann nicht die Rolle der EU sein, der Wirtschaft einen Verkehrsträger aufzuzwingen. Noch kann es sich die EU leisten, die Straße zu vernachlässigen. Deshalb ist die Ko-Modalität – die Förderung jedes einzelnen Verkehrsträgers mit dem Ziel, ein integriertes europäisches Transportsystem zu entwickeln – der Weg, den die Kommission einschlagen muss und einschlagen wird.

Bedeutet dies, dass der Schienenverkehr nicht mehr im Mittelpunkt der Bemühun­gen der EU-Verkehrspolitik stehen wird?

Die Bahnen haben sicherlich ein riesiges Potenzial, sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr eine gute Alternative zur Straße darzustellen. Dazu benötigen wir aber eine grundlegende Reform im Bahnsektor.

Heißt das, die von der EU eingeleitete Marktöffnung reicht nicht aus?

Verstehen wir uns nicht falsch. Eine Menge ist in den letzten Jahren erreicht worden. Doch der große Binnenmarkt im Bahnsektor ist bislang ein unerfüllter Traum geblieben. Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt, dass sich große Bahnunternehmen übereinander beschweren. Aber damit kein Missverständnis aufkommt: Als ich von einer grundlegenden Reform sprach, dachte ich vor allem auch an den Bahnsektor selbst, der sich an die eigene Nase fassen muss.

Können Sie das bitte näher erläutern?

Die Bahnen müssen verstehen, dass sie die Wettbewerbsfähigkeit ihres Sektors zu einem guten Teil in den eigenen Händen halten. Mir ist in diesem Zusammenhang die heuchlerische Haltung einzelner Nationalbahnen ein Dorn im Auge. Auf der einen Seite bekennen sie sich offen zur Marktliberalisierung. Wenn es aber um die konkrete Umsetzung geht, suchen dieselben Bahnen unentwegt nach Möglichkeiten, sich vor Wettbewerbern zu schützen. Wenn die Bahnen diese Energie dazu verwenden würden, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern, könnten sie der Marktöffnung gelassen entgegen sehen. Es ist unerlässlich, dass sich die – ehemaligen – Staatsbahnen von ihren angestammten historischen Privilegien verabschieden.

Ein Dorn im Auge ist der Kommission auch die Holdingstruktur der Deutschen Bahn. Was muss sich in Deutschland ändern?

Die Kommission bemängelt die Holdingstruktur der DB, weil sie keinerlei Garantie für die Unabhängigkeit der Netzbetreiberin DB Netz AG im Verhältnis zu den Transporttöchtern der DB Holding bietet, wie dies von den Eisenbahnrichtlinien vorgeschrieben wird. Wir mussten leider feststellen, dass innerhalb der DB Holding eine deutliche Überlappung der Interessen zwischen Netz und Betrieb besteht. Durch die konkrete Ausgestaltung der Holding ist nicht ausgeschlossen, dass DB Netz die operativen Gesellschaften der DB begünstigt.

Die erste Reaktion der Mitgliedstaaten auf den Kommissionsvorschlag, verpflichtend lärmabhängige Trassenpreise einzuführen, war mehr als zurückhaltend. Werden Sie daran festhalten?

Ja, ich habe weder vor, den Vorschlag zurückzuziehen, noch ihn zu ändern. Gegen die Fondslösung, die der Bahnsektor zur Finanzierung der Umrüstung der Wagen bevorzugt, spricht, dass ich nicht weiß, wo das Geld herkommen soll, aus dem dieser Fonds gespeist werden soll. Wir sind es den Bürgern aber schuldig, dass die Lärmbelastung der Schiene drastisch und schnell gesenkt wird. Und dafür sind lärmabhängige Trassenpreise die beste Lösung.

Die Kommission will die Einführung an die Anlastung externer Kosten für den Schwerlastverkehr koppeln. Wie lange wird es nach der Einigung im Verkehrsministerrat im vergangenen Oktober noch dauern, bis die neue Eurovignette-Richtlinie in Kraft treten kann?

Ich habe alle Gründe zu glauben, dass sich das Europäische Parlament bei den anstehenden Verhandlungen mit dem Rat vernünftig zeigen wird. Auch wenn der gefundene Kompromiss vielen nicht weit genug geht, ist es doch ein wichtiger Schritt, der eine Signalwirkung hat. Die Bahnen müssen sich also darauf einstellen, dass die lärm­abhängigen Trassenpreise schnell Realität werden. Voraussetzung ist natürlich, dass Europaparlament und Mitgliedstaaten diesem Vorschlag zustimmen.

Worüber wird denn im Rahmen der Eurovignette-Richtlinie noch gestritten?

Einer der größten Streitpunkte ist die Einbeziehung der Staukosten. Diese nicht zu berücksichtigen, wäre sicherlich der falsche Weg. Die Kommission kann jedoch die Entscheidung der Mitgliedstaaten akzeptieren, dass diese nicht zusätzlich als feste Größe angerechnet werden, sondern die Mautsätze je nach Tageszeit anhand differenzierter Staukosten variieren. Im Durchschnitt bliebe die Maut bei diesem Szenario unverändert.

Dies ist doch bereits heute möglich?

Stimmt. Neu ist aber, dass diese Variation nicht mehr 50 Prozent sondern bis zu 175 Prozent betragen soll. Der Effekt einer Verkehrslenkung wäre somit ungemein höher.

Ist eine Einbeziehung von Kosten für CO2 und Unfällen vom Tisch?

Nein. Mittelfristig ist es das Ziel der Kommission, dass nicht nur die Straße, sondern jeder Verkehrsträger für die verursachten Kosten aufkommt. Dazu gehören auch CO2 und Unfälle. Meine Dienststellen arbeiten bereits an einer Methodologie, um allen Verkehrsträgern ihre externen Kosten anzulasten.

Was haben Sie denn konkret mit der Straße vor?

Langfristig führt wohl kein Weg daran vorbei, allen gewerblich genutz­ten Fahrzeugen die Kosten für Infrastruktur, Staus, Lärm und Luftverschmutzung auf dem Straßennetz der EU anzulasten. Der Grund ist einfach: Die Anlastung externer Kosten wie für Staus kann nur effektiv sein, wenn dies auch für Transporter und PKW gilt. Während eine EU-Regelung für Transporter möglich wäre, will die Kommission die EU-Länder zumindest ermutigen, auch PKW einzubeziehen.

Wird es bei einer freiwilligen Maßnahme bleiben, oder ist denkbar, dass die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, LKW-Mautgebühren zu erheben?

Das ist eine sensible Frage. Es gibt Überlegungen, alle EU-Länder zu verpflichten, Mautgebühren für den schweren LKW-Verkehr zumindest auf den Hauptverkehrsachsen zu erheben. Eine solche Regelung lässt sich aber nur durchsetzen, wenn die Betroffenen sehen, dass sich auch Vorteile für sie ergeben, wie beispielsweise weniger Staus oder ein besseres Straßennetz. Es kann aber niemals das Ziel sein, den Güterkraftverkehr einseitig zu belasten. Das würde verheerende Folgen für die gesamte Wirtschaft der EU haben.

Die Kommission plant auch eine Revi-sion der Leitlinien für den Aufbau des Transeuropäischen Verkehrsnetzes. Wie soll sichergestellt werden, dass die Mitgliedsaaten ihre Verpflichtungen auch tatsächlich einhalten?

Die Diskussionen darüber sind noch nicht abgeschlossen. Ich kann aber bereits verraten, dass die Kommis-sion nach einem Ansatz sucht, der die Gewährung von EU-Mitteln von den Fortschritten von Projekten abhängig macht.

Christian Dahm
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