Krankenkassendefizit

Die Stunde der Provokateure

d'Lëtzebuerger Land vom 28.07.2005

Jetzt streiten sie wieder öffentlich, die Akteure im Gesundheits- und Sozialwesen: Patronat, Gewerkschaften, Ärzteverband AMMD und Ressortminister Mars Di Bartolomeo. Denn im nächsten Jahr droht der Krankenkassenunion UCM ein Defizit von 26 bis 28 Millionen Euro. Was dagegen unternommen wird, muss die UCM-Generalversammlung Mitte November beschließen.

Aber Vorschläge gibt es schon: Die Bemessungsgrenze für die Kassenbeiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber von fünfmal dem Mindestlohn abzuschaffen, brachte OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding vor zwei Wochen nach einer Sitzung des Nationalvorstands der Gewerkschaft ins Gespräch. So ließen sich mindestens 57 Millionen Euro an Mehreinnahmen erzielen. Man sollte noch "ein paar Nullrunden" bei den Verhandlungen der Arzthonorare anhängen, legte OGB-L-Sozialsekretär René Pizzaferri vor einer Woche im Tageblatt nach, denn die Honoraraufbesserungen, die der damalige Gesundheitsminister Carlo Wagner (DP) den Ärzten im Frühsommer 2003 per Gesetz zugestanden hatte, würden allein 40 Millionen Euro pro Jahr kosten. Kein Problem, entgegnete AMMD-Generalsekretär Daniel Mart in einem Radiointerview, sofern auch für das Pflegepersonal in den Kliniken Nullrunden gälten. Handwerkskammer und Handelskammer machten letzten Freitag von ihrem Recht Gebrauch, Gesetzesvorschläge einzubringen, und wollen bis 2009 die Arbeitgeberanteile an den Krankenversicherungsbeiträgen auf dem Niveau von 2005 eingefroren sehen. Minister Di Bartolomeo lässt sich indessen so verstehen, als gebe es "noch genügend Sparpotenzial", und man komme womöglich ohne neue Beitragserhöhungen und Leistungsverschlechterungen für die Versicherten aus.

Ein bisschen Recht haben alle Seiten. Dass die Diskussion schon jetzt geführt wird, hat sicher damit zu tun, dass die Regierung im Herbst die Luxemburger "Lissabon-Strategie" formulieren und die Auseinandersetzung um die Krankenkassenfinanzierung zeitgleich mit der um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts geführt werden muss. Da ist es weder verwunderlich, dass der OGB-L den Gesundheits- und Sozialminister daran erinnert, dass dieser als gesundheitspolitischer Sprecher der LSAP-Fraktion im Wahlkampf 2004 der Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze einiges abgewinnen konnte (d'Land, 09.04.2004), noch überrascht es, dass das Patronat laut auf seine Interessen hinweist.

So unverschämt sein Wunsch, sich für vier Jahre aus der sozialpartnerschaftlichen Verantwortung für die Krankenversicherung zu verabschieden, auch scheint: Der Vorstoß hat den Vorzug, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Finanzierung des Gesundheitswesens langfristig abzusichern, die Ausgabenseite analysieren und darüber eine "breite öffentliche Debatte" führen zu wollen. Auf die Idee des OGB-L trifft das weniger zu.

Denn das sich ankündigende erneute UCM-Defizit scheint einerseits klein, verglichen mit jenem Minus von 84 Millionen Euro, das für 2004 in Aussicht stand und welches ein Ende 2003 von der Tripartite noch schnell beschlossener 130-Millionen-Transfer aus den Rentenkassen ausglich. Damals waren die explosionsartig gestiegenen Ausgaben für das Arbeiterkrankengeld der Defizitverursacher und zum Großteil auf Fehler zurückzuführen gewesen, die bei der Reform der Berufsinvaliditätsregelungen gemacht wurden und den Krankenkassen Krankengeldkosten aufbürdeten, die eigentlich Rentenkosten waren.

Andererseits aber kaschiert das zu erwartende Gesamtdefizit für 2006 eine Entwicklung, die sich vor zwei Jahren schon ankündigte, der sich allerdings niemand stellen wollte, weil sonst wenige Monate vor den Parlamentswahlen über Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen oder umfangreichere Eigenbeteiligungen der krankenversicherten Wähler hätte gesprochen werden müssen: In der Kassen-Sachleistungsbilanz der Einnahmen aus den Versichertenbeiträgen und einem Staatszuschuss einerseits und andererseits den Ausgaben für Arzthonorare, Krankenhauskosten oder Aufwendungen für Medikamente gab es 2003 noch einen Überschuss von 80 Millionen Euro. Dass er drastisch sinken würde, war bekannt. Die Honoraraufbesserungen für die Ärzte machten sich bemerkbar. Die Neubauten des Krankenhauses auf dem Kirchberg und der St Louis-Klinik in Ettelbrück, zu einem Fünftel von der UCM finanziert, führten nicht nur zu Budgetüberschreitungen, sondern auch zu um rund 30 Prozent höheren Funktionskosten der neuen Häuser (d'Land, 09.01.2004). Der neue Kollektivvertrag für das Pflegepersonal in den Kliniken brachte des Weiteren eine Punktwertaufbesserung im Gehalt um 4,88 Prozent ab Anfang 2004 und eine Prämie von 1,6 Prozent des Jahresbruttogehalts 2003. So schrumpfte das Sachleistungsplus der Kassen 2004 auf zehn Millionen Euro. 2006 wird ein Defizit von an die 94 Millionen erwartet. Es wird in der Gesamtrechnung mit ihrem geschätzten Minus von 26 bis 28 Millionen Euro kompensiert durch die Nachwirkungen des 130-Millionen-Transfers, der die Defizitlage beim Arbeiterkrankengeld - und nur zu dessen Mitfinanzierung war er vorgesehen - noch immer ausgleichen hilft.

Gerade im Klinikbereich, für den die Kassenausgaben 2004 mit einem Plus von 14,9 Prozent außerordentlich wuchsen, wird der Trend sich fortsetzen: Demnächst wird auf dem Kirchberg die neue Bohler-Klinik öffnen. Sicherlich mit höheren Funktionskosten als ihre Vorgängerin an der Arloner Straße. Nächstes Jahr wird das neue Reha-Zentrum eingeweiht, mit rund 100 neuen Mitarbeitern. Ende dieses Jahres läuft der Kollektivvertrag für das Pflegepersonal aus. Der neue wird das vor zwei Wochen von der Chamber verabschiedete Gehälterabkommen für die Staatsbeamten übernehmen - dann steigen auch in den Kliniken die Gehälter erneut. Vorangetrieben werden soll in den kommenden Jahren die Dezentralisierung der Psychiatrie. Das bedeutet nicht nur Neubauten, sondern auch Ausbau der außerklinischen Dienste, die künftig nicht mehr per Konvention aus dem Staatsbudget finanziert werden sollen, sondern entweder aus der Pflegeversicherung - die in diesem Jahr erstmals defizitär ist - oder aus den Krankenkassen.

Was Gesundheitsminister Di Bartolomeo bisher an Reformmöglichkeiten erkannt hat, reicht sicher nicht für ein ausgeglichenes UCM-Budget, und wahrscheinlich noch nicht für die Zukunft. Sein Vorhaben, die Kliniken zu "durchleuchten", hat Sparpotenzial bisher vor allem bei den variablen Kosten erkannt. Die verdoppelten sich in etwa zwischen 1995 und 2003, doch sie sind überwiegend Medikamentenkosten und ihr Zuwachs wird vor allem generiert durch gestiegene Preise für Präparate, bei denen Einsparungen sich nicht ohne Weiteres begründen lassen würden: für Krebsmedikamente zum Beispiel.

60 Prozent der Klinikkosten aber sind Personalkosten. Wollte der Minister nichts daran ändern, dass eine in Luxemburg angestellte Krankenschwester "en fin de carrière" dreimal mehr verdient als eine Berufskollegin in den Nachbarländern, müsste er zumindest rigoros die bestehenden Klinikdienste auf ihre Notwendigkeit und eine kritische Masse hin überprüfen. Von den Geburtenstationen etwa erreicht die in der Wiltzer Klinik mit rund 200 Entbindungen pro Jahr bei Weitem nicht die allgemein anerkannte kritische Masse von 500. Gleichwohl müssen dort wie in den anderen Häusern auch fünfeinhalb Hebammen-Arbeitseinheiten bereitgehalten werden, um einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb zu garantieren.

Zu überprüfen wären auch Konkurrenz und Kooperation zwischen den Häusern: Die Entscheidung zum Neubau der Kirchberger Kongregationsklinik war ein Wendepunkt, auf den andere Spitäler mit ausgeweiteten Angebot reagierten. Doch wenngleich es zu Fusionen großer mit kleinen Kliniken kam, sind Synergien zwischen den großen Einheiten, die ein regionales Kerngeschäft und eine Kernkompetenz festlegen würden, nach wie vor Mangelware oder funktionieren noch nicht richtig, wie die zwischen dem CHL und dem Centre hospitalier Emile Mayrisch Esch/Düdelingen.

All das ist auch deshalb problematisch, weil laut geltender Rechtslage ein freiberuflicher Mediziner, der als Belegarzt an einer Klinik tätig ist, verschreiben darf, was er will. In der Summe viel kann das nicht nur deshalb werden, weil der Zustand eines Patienten es erfordert, sondern auch, weil etwa manche Operationstarife niedriger sind als die Preise, die ein Handwerker verlangt. Verständlich, dass eine "Quersubventionierung" durch andere Akte mitunter willkommen ist: etwa durch die Anwendung schwerer Diagnosetechnik, obwohl es nicht unbedingt nötig ist. Womöglich gibt es auch deshalb noch immer Wartelisten für IRM-Scanner-Untersuchungen, obwohl die Zahl dieser Scanner pro Einwohner hier zu Lande die weltweit höchste ist.

Damit ist das Verschreibungsverhalten der Klinikärzte ein wichtiger Faktor für hohe Kassenausgaben. Andererseits aber verrichten diese Ärzte mit Ausnahme der fest angestellten im CHL und sämtlicher Anästhesisten ihren nächtlichen Bereitschaftsdienst unentgeltlich. Das Pflegepersonal erhält Nachtzuschläge. Wahr ist aber auch, dass die in einer Nomenklatur festgehaltenen Arzttarife historisch gewachsen und in ihre Höhe auch davon geprägt sind, wie AMMD-interne Lobbys ihren Einfluss auf die Tarifverhandlungen mit der UCM geltend machen konnten: Es gibt Spezialistensparten, deren Tarife günstiger sind als die anderer.

In dieser gefährlich unklaren Situation wäre eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, wie sie der OGB-L vorschlägt, keine gute Lösung. Noch nicht. Sie wäre sozial gerecht und entspräche dem Solidargedanken. Nicht nur aber dürften Mehreinnahmen von 57 Millionen Euro beim strukturellen Stand der Dinge rasch aufgebraucht sein; sie könnten auch dazu verleiten, das System insgesamt zu wenig und zu spät in Frage zu stellen.

Dann jedoch könnte unter den nun stärker in die Pflicht genommenen Besserverdienern die Qualitätsfrage an das Luxemburger Gesundheitssystem gestellt und die Opportunität von Privatversicherungen diskutiert werden. Womöglich könnte die DP, die schon im Wahlkampf vor einem Jahr zwar verhohlen, aber vernehmbar einer solchen Liberalisierung das Wort redete, dafür politisch eintreten. Es wäre das Ende der obligatorischen Ärztekonventionierung, die dem OGB-L so wichtig ist, und würde das Solidarsystem hier zu Lande noch weiter aushöhlen, als es derzeit etwa durch die Freiheit der Zahnärzte zur Berechnung von Zahnersatzleistungen schon der Fall ist: Die Eigenbeteiligung der Versicherten an den Zahnarztleistungen liegt seit Jahren im Schnitt bei über 40 Prozent.

Sollten die Sozialpartner und Mars Di Bartolomeo zum Ausgleich des UCM-Defizits im Herbst tatsächlich weder zu Beitragserhöhungen noch zu Leistungsabbau greifen wollen, bestünde die sauberste Lösung darin, dass der Staat erneut die Deckungslücke übernimmt, um die Last zu verallgemeinern und im Gesundheits- und Krankenkassendiskurs der Stunde der Provokateure, die derzeit andauert, schnellstens die der unnachgiebigen Analysten folgen zu lassen. Immerhin besteht das Problem in einem Interessenwirrwarr, das eine lange Geschichte hat und das Mars Di Bartolomeo noch nicht auflösen konnte.

Nötig ist es aber auch aus einem ganz anderen Grund: Nach der Lektüre des Integrativen Verkehrs- und Landesentwicklungskonzepts (IVL) wollte die vorige Regierung und will auch die derzeitige alles tun, damit in den nächsten Jahren die Zahl der Grenzpendler sinkt, indem mehr ausländische Arbeitnehmer hier ansässig werden. Das Verkehrsaufkommen ginge sicherlich zurück, würde das so genannte "Einwohnerszenario" aus dem IVL Realität, und Gemeinden könnten ökonomisch potenter werden. Doch die "Frontaliers" sind ein extrem wichtiger Faktor in der Krankenkassenbilanz. Sie sind zahlreich genug, um viele Beiträge zu zahlen, im Schnitt jung genug, um noch relativ wenig medizinische Leistungen zu konsumieren, und falls doch, nehmen sie sie überwiegend in ihrem Wohnsitzland in Anspruch - da, wo die Tarife niedriger sind als hier und es die Luxemburger Kassen weniger kostet.

Peter Feist
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