Blauzungenkrankheit

Zieht euch warm an!

d'Lëtzebuerger Land vom 04.10.2007

Warm anziehen müssen sich die europäischen Bauern angesichts der fortschreitenden Verbreitung der Blauzungenkrankheit auf dem Kontinent und den finanziellen Einbußen, die dies mit sich bringt. Dabei würden sie liebend gern so bald wie möglich in ihre Winterkleidung steigen; sinkende Temperaturen sind das einzigeGegenmittel. Von Dänemark bis Frankreich reicht das Gebiet, in dem die Krankheit grassiert. Vor kurzem reiste der Erreger über den englischen Kanal, auch dort wurden die ersten Fälle registriert. In den Niederlanden, Belgien und im Westen Deutschlands geht der Virus flächendeckend um. Letztes Jahr gab es schon Fälle in Nordeuropa. 

Dabei stammt der Virus, der von Culicoides-Mücken aus der Familie der Gnitzen auf Wiederkäuer übertragen wird, eigentlich aus südlicheren Gegenden im afrikanischen Mittelmeerraum. Dass nach 2006 dieses Jahr so viele Tiere erkranken, zeigt: Die Gnitzenüberleben nun auch die milder gewordenen europäischen Winter.

Der wirkliche Schaden, der für die Bauern durch die derzeitige Krankheitswelle ensteht, ist augenblicklich noch schwer abzuschätzen. Das liegt auch amVerlauf der Krankheit selbst.Denn anders als bei anderen Tierseuchen, die Europa im vergangenen Jahrzehnt heimsuchten, muss wegen des Blauzungenvirus nicht großräumig gekeult werden; der Virus überträgt sich nach dem heutigen Wissensstand nicht direkt von Tier zu Tier. Die Sterblichkeitsrate variiert von Tierart zu Tierart, aber auch je nach Intensität des Krankheitsverlaufs. Arthur Besch, Direktor der Veterinärinspektion, schätzt, dass zwischen zwölf und fünfzehn Prozent des angesteckten Rindviehs stirbt. Bei den Schafen sterbe ungefähr die Hälfte der erkrankten Tiere.

Nun haben die Luxemburger Bauern schon einen entscheidendenVorteil gegenüber den Kollegen im Ausland: Der Staat zahlt ihnen für das tote Vieh 1,5 Euro pro Kilogramm Lebendgewicht respektivdrei Euro das Kilogramm Schlachtgewicht. Für die Schafe gibt es eine Pauschale von 120 Euro pro Tier. Bisher müssen laut Besch 520 Schafe entschädigt werden, eine Ausgabe von 62 400 Euro für den Staat. Dazu kommen zum jetzigen Zeitpunkt 360 Rinder, für die, je nach Gewicht, zwischen 800 und 1 200 Euro anfallen. Der Kostenpunkt liegt bisher zwischen 288 000 und 432 000 Euro.Weil das Wetter weiterhin mild ist, rechnet der Chef der Veterinärinspektion damit, dass die Gnitzen bis Ende November unterwegs sein werden, solange kann es zu Neuansteckungenkommen.

Die Entschädigungen decken aber den Verlust der Bauern nicht. Milchkühe wiegen im Vergleich zu den Fleischrassen wenig, ihr wahrer Wert liegt in derMilch, die sie geben, nicht im Fleisch. „600 Kilo sind schon viel für eine Milchkuh“, sagt Christiane Vaessen von der Landwirtschaftskammer. Nach dem Entschädigungsmustererhält der Eigentümer dafür 900 Euro. Bereits letztes Jahr lag der Preis für eine Milchkuh in der Produktion im Schnitt bei 1 250 Euro. Seit der Ausbreitung der Blauzungenkrankheit ist der Preis hochgeschnellt. „Aktuell sind wir bei 2 000 Euro angelangt“,erklärt Armand Braun von Convis, das war schon letztes Jahr dernormale Preis für ein Fleischrassen-Muttertier. „Die Folgeschäden sind viel größer“, warnt er.

Denn für die Landwirte schlagen nicht nur die toten Tiere zu Buche.Diese können unfruchtbar werden und während der Fieberschübe auch Ungeborene verlieren. Wie viele Tiere ihre Reproduktionsfähigkeit verlieren, ist nicht genau bekannt, Arthur Besch schätzt, dass es bis zu zehn Prozent sind, Braun meint, eskönnten bis zu 30 sein. Dabei gibt die eine Aussage der anderen nicht Unrecht. Man weiß bisher einfach zu wenig über die Krankheit und ihre Folgen. „Diese Tiere fehlen dann in den Beständen und es kommt zum Mangel an Zuchtvieh“, fährt Braun fort, daher der Preisanstieg, der die Agronomen vor ein Dilemma stellt: Jetzt für sehr teueres Geld neue Tiere kaufen, um die Milch- und Fleischproduktion auf dem gewohnten Niveau zu halten, oder nicht. „Die Leute rechnen, was besser ist. Jetzt einen enormen Preis zahlen oder weniger produzieren. Das sind die Überlegungen, die die Betriebe machen müssen“, sagt er. Eben da es bis Ende November immer noch zu Neuerkrankungen kommen kann. „Das, was sie am meisten fürchten, ist das Ausbleiben eines kalten Winters.“

Das schlimmste Szenario, das einen Milchproduzenten treffen kann, ist wenn die Mutterkuh kurz vor der Geburt des Kalbes erkrankt und es stirbt oder sie ein totes Kalb zur Welt bringt. Denn gegen Ende ihrer Trächtigkeit wirddie Kuh „trocken gelegt“, sie gibt keine Milch mehr, um Kraft für die Geburt anzusammeln. Ist dann kein Kalb da, muss die Kuh erst neu gedeckt werden und ein neues Kalb zurWelt bringen, damit sie wieder Milch produziert. Fast ein Jahr lang steht sie also quasi „unproduktiv“ im Stall, muss aber dennoch gefüttert werden. 

Rund 50 Liter Milch geben Hochleistungskühe am Tag, im Schnitt zwischen 8 000 und 10 000 Liter im Jahr, dabei ist ein Liter Milch 38 Eurocent wert. Fällt eine Kuh ganz aus, fehlen also 3 000 bis 3 800 Euro in der Kasse. Alternative: Ausmästen und schlachten,besonders bei jungen Rindern, die überhaupt noch keinen Laktationszyklus mitgemacht haben. Mag das auch so klingen, als ob die einzelne Kuh nicht besonders viel verdient; sie steht nicht allein im Stall. Nach BraunsVoraussage werden die LuxemburgerBauern ihre Milchquote dieses Jahr nicht erfüllen.

Außerdem aber fehlt das Kalb. Ein kleiner Holstein-Stier kann nachzwei Wochen für mindestens 150 Euro verkauft werden. Meist gehen sie an niederländische Mästereien. „90 Prozent der Kälber werden exportiert“, sagt Besch. Deswegen hat Luxemburg verhandeln müssen, damit der Handel nicht abbricht. Zugute kam den Luxemburgern bei der Erstellung der Protokolle, dass die Niederlande bereits Infizierungen hatten, sokonnte von „Sperrgebietzu Sperrgebiet“ verkauft und an den noch nicht infizierten Gebietenvorbei transportiert werden.

Auch wenn die Krankheit zu einem früheren Moment der Trächtigkeit eintritt, fallen Kosten an, dann ist die Besamung hin. Es muss erst einmal zwei Monate abgewartet werden, bis ein neuer Versuch gestartet werden kann. Und es muss gefüttert werden,trotz Produktionseinbußen. Hinzu kommen die Veterinärkosten. Bei einem Besuch rechnet Christiane Vaessen bei einem Rind einschließlich der Medikamentemit 50 Euro, bei einem Schaf mit 30 Euro. Genau wie die Milchbauern sehen sich die Fleischproduzenten einer großen Ungewissheit ausgesetzt. Erstens was die Anzahl von neuen Kälbern betrifft und auch deren Gesundheit. Denn auch die Qualität des Fleisches bestimmt den Preis, das kann bis zu 50 Cent pro Kilo ausmachen, meint Jean-Pierre Schmitz von der Landwirtschaftskammer.

Da vor allem die schnelle Gewichtszunahme zählt, schadet dieKrankheit auch den lebenden Tieren. Nehmen sie ab, verlieren sie anWert. Schlecht ist auch, wenn das Muttertier kurz nach der Geburt erkrankt und keineMilch hat, denn die sei besonders wichtig für die gute Entwicklung der Jungtiere. Wie hoch der Schaden wirklich ist, hängt also von vielen Faktoren ab, und wird frühestens nächstes Jahr besser zu sehen sein, wenn sich zeigt, ob die dieses Jahr erkrankten Tiere überhaupt noch fruchtbar sind, meint Schmitz.

Seinen direkten Schaden für seine Schafsherde chiffriert Marc Vaessen, Vorsitzender der Schäfergenossenschaft, auf 5 000 Euro. Er hat 80 Mutterschafe und 100 Lämmer, 20 sind bis jetzt an der Blauzungenkrankheit gestorben. Neben dem Wert der Tiere hat er die Kosten der Medikamente einberechnet und seine zusätzlichen Arbeitsstunden. Dabei stellt sich für ihn, der Luxemburger Texel züchtet, ein grundsätzliches Problem: Seine Rassentiere sind zwischen 200 und 300 Euro wert, mehr als den Schlachtpreis von120 Euro. Die Entschädigungspauschale reicht also nicht aus, um dietoten Tiere zu ersetzen. Ein wenig ungerecht findet er das, auch da es für weniger edle Tiere genauso viel Geld gibt. Ihm wird es ebenfalls schwer fallen, ebenbürtige Zuchtschafe zu finden, was einen Einfluss auf die Weiterführung der Aufzucht an sich haben wird. Eine Versicherung konnte er für seine Hammelherde nicht abschließen.

Die gibt es seit Anfang des Jahres für die Folgekosten wie Produktionsausfälle beim Rindvieh und für Schweine; eine ganze Palette von Krankheiten wird dadurch abgedeckt. Doch wenigLandwirte ließen sich darauf ein, obwohl der Staat sich mit 50 Prozent an der Prämie beteiligt. Vielleicht wurde nicht genug Werbung dafür gemacht, räumt man beim Service de l’Économie rurale ein. Viele hätten aber auch nicht verstanden, wie nah die Krankheit schon an ihren Ställen ist. Nun da sie da ist, wollte die deutsche Versicherungsgesellschaft natürlich keine Policen mehr abschließen.

Also verhandelte der Staat wieder. Die Bauern können auch jetztnoch Verträge unterzeichnen, allerdings gibt es eine Karenzzeit von drei Monaten, erst für Neuerkrankungen danach wird entschädigt. Bis dahin hoffen wohl Versicherung und Bauern, dass es richtig kalt ist.

Dass es für die derzeitigen Fälle aber kein Geld für den indirekten Schaden geben soll, wollen die Bauernverbände nicht hinnehmen, auch dafür verlangen sie vom Staat Abgeltung. Gemeinsam mit den Vereinigungen aus anderen Ländern wird eine Entschädigung auf EU-Niveau gefordert. Für beides stehen die Chancen denkbar schlecht. Denn in Luxemburg versucht das Landwirtschaftsministerium eben just die Bauern mittels Kostensplitting auf den Weg von Versicherungen zu bringen,damit keine Entschädigungen gezahlt werden müssen, so wie diesschon beim Pflanzenanbau der Fall ist. Jede Zahlung wäre also ein Rückzieher von dieser Politik, außerdem dürfte sich die Versicherungsgesellschaft VTV angesichts einer solchen Maßnahme fragen, warum man überhaupt mit ihr verhandelt hat. Dazu kommt, dass solche Schritte erst von Brüssel geprüft werden müssen, um zu klären, ob es sichnicht um illegale Beihilfen handelt. Das etwas auf europäischem Niveau passiert hält Arthur Besch für sehr unwahrscheinlich.

Denn schon vor Jahren berichteten die Spanier und Portugiesenunter dem Punkt divers der Tagesordnung im Agrarministerrat von der Blauzungenkrankheit, ohne damit viel Interesse zu wecken. Fragte Frankreich vergangene Woche auch Entschädigungen, so sieht der Chef-Veterinär wenig Aussichten auf Erfolg, sonst müssten die südlichen Länder auch entschädigt werden. Ob der Impfstoff, an dem verschiedene Labors derzeit arbeiten, rechtzeitig verfügbar ist, um einen weiteren Ausbruch nächstes Jahr zu verhindern, bleibt fraglich. Denn Spanier und Portugiesen haben zwar einen Impfstoff, ihre Tiere sind aber nicht vom gleichen Serotypen geplagt, die Impfungen sind hier wertlos. Auch den Stoff, der in Afrika auf Basis des richtigen Serotypen Nummer acht für ihre rustikaleren Rassen entwickelt hätten, könne man bei den hiesigen Hochleistungstierennicht einsetzen. Die Nebenwirkungen führen zu genau den gleichen Problemen wie die Krankheit selbst. Bis Ende des ersten Semesters2008, berichteten die Labors den europäischen Veterinären diese Woche, sei ein Präparat ohne Nebenwirkungen auf dem Markt.Das ist eigentlich zu spät, denn die Gnitzen würden, ohne einen allesvernichtenden Winter, ab Ende März wieder unterwegs sein, sagtBesch, im April das Vieh auf dieWeide getrieben. Dann könnte eineneue Welle anstehen.

Michèle Sinner
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