Rinderwahn in der EU

BSE-Krise ohne Ende?

d'Lëtzebuerger Land vom 23.11.2000

Fast 90 Menschen sind bereits an der Hirnerkrankung Creutzfeld-Jakob gestorben. Betroffen von der menschlichen Variante der Rinderkrankheit BSE ist vor allem Großbritannien, zunehmend aber auch Frankreich. Wahrscheinlich ist verseuchtes Rindfleisch die Ursache. Mehrere gerade veröffentlichte Studien zeigen, wie schlampig bis fahrlässig die britischen Regierungen unter Margret Thatcher und John Major im Umgang mit BSE waren. Um den Absatz von Rindfleischprodukten im In- und Ausland nicht zu gefährden, setzten sie Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums unter Druck und ließen sogar wissenschaftliche Studien manipulieren, kritisiert die Münchner Soziologin Kerstin Dressler in einer detaillierten Untersuchung der britischen BSE-Politik seit 1985. 

Der tausend Seiten umfassende Report der britischen BSE-Untersuchungskommission, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, bedient sich zwar einer behutsameren Sprache als Kerstin Dressler.  Dennoch deckt auch der sogenannte Phillips-Bericht eine Fülle von gravierenden Fehlern auf und wirft ein Schlaglicht auf die Verflechtung wirtschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Interessen. Das gelte allerdings nicht nur für Großbritannien, sondern für die gesamte Europäischen Union, kritisiert die Vorsitzende des ehemaligen BSE-Ausschusses im Europäischen Parlament, Dagmar Roth-Behrendt: "Die Landwirtschafts- und Gesundheitsminister aller Mitgliedstaaten haben das jahrelang unter den Teppich gekehrt, weil sie Angst hatten, dass ihre Rindfleischmärkte zusammenbrechen würden." 

Nach der versuchsweisen Einführung von BSE-Tests im Juni wurden sich aber die Franzosen der wahren Dimension ihres "vache folle"-Problems bewusst: Allein in  diesem Jahr sind bereits 100 Fälle entdeckt worden, drei Mal mehr als im letzten Jahr. Mindestens zwei Franzosen sind schon an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben. Seitdem ist in Frankreich Panik ausgebrochen. Schulen haben Rindfleisch aus ihren Menus gestrichen. Supermärkte melden einen drastischen Absatzrückgang von Fleischprodukten. Die Regierung in Paris verbot den Verkauf von T-Bone-Steaks und die Verfütterung von Tiermehl. Das Verbot soll nun auch EU-weit durchgesetzt werden. Dagegen wehrt sich der deutsche Landwirtschaftsminister. Karl-Heinz Funke überlegt allerdings, den Import von französischem Rindfleisch verbieten. Spanien, Italien, Griechenland und Österreich  haben das bereits getan. 

Um die BSE-Krise einzudämmen, will der für Verbraucherschutz und Volksgesundheit zuständige Kommissar David Byrne nun das EU-Lebensmittelrecht "mit dem seit 25 Jahren radikalsten Schritt" effektiver gestalten. An Stelle der Vielzahl von Vorschriften soll künftig ein systematisches Lebensmittelrecht mit einer vom Hof bis zum Ladentisch gültigen Hygienepolitik treten. Die wichtigste Rolle bei der Reform soll aber eine unabhängige Agentur für Lebensmittelsicherheit spielen, so die Sprecherin für Gesundheitsfragen der EU-Kommission, Beate Gmindler: "Während der ganzen BSE-Krise hat es sich gezeigt, dass es sehr wichtig ist, unabhängigen wissenschaftlichen Ratschlag zu bekommen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, eine Agentur zu errichten, die hauptsächlich gute prominente Wissenschaftler beschäftigt, die sich zu dem Thema auskennen." 

Allerdings gibt es schon seit 1997 das Europäische Lebensmittel- und Veterinäramt. Es ist in der irischen Hauptstadt Dublin angesiedelt und der Generaldirektion für Verbraucherschutz und Gesundheit der EU-Kommission in Brüssel zugeordnet. 120 europäische Inspektoren überwachen von dort aus, ob die Mitgliedstaaten die rund 80 Lebensmittel-, Veterinär- und Pflanzenschutzmittelvorschriften der EU einhalten. Ihre Berichte werden dem Europäischen Parlament zugeleitet und im Internet veröffentlicht. Mit diesem Schritt, so Dagmar Roth Behrendt, habe die EU-Kommission bereits eines der transparentesten Kontrollsysteme der Welt geschaffen. Die neue Lebensmittelagentur sei deswegen überflüssig: "Die Lebensmittelbehörde ist ein biss-chen Augenwischerei. Vertrauen erreicht man doch nicht dadurch, dass man eine neue Prüfstelle einrichtet, sondern wir müssen unsere Lebensmittelerzeugung ändern." 

Schließlich werde immer deutlicher, dass die Rinderkrankheit BSE auf den Menschen übertragbar sei. Das größte Risiko dafür bestehe zwar in Großbritannien, Portugal und Irland. Doch gleich danach folgten die Schweiz, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Frankreich, so ein im August veröffentlichter Bericht des wissenschaftlichen Lenkungsausschusses der Kommission. Auch in Deutschland soll sich der Erreger ausgebreitet haben. Er sei aber wegen mangelnder Untersuchungen noch nicht nachgewiesen worden. Das will die deutsche Regierung jetzt nachholen. Bis Ende kommenden Jahres sollen 66 000 BSE-Test durchgeführt werden. 

Das entspricht dem Beschluß der EU-Agrarminister von dieser Woche, ab 1. Januar alle geschlachteten Rinder im Risikoalter von über 30 Monaten testen zu lassen, die ein auffälliges Verhalten gezeigt haben. Zu einem späteren Zeitpunkt könnten die Tests dann auf alle über 30 Monate alten geschlachteten Rinder ausgedehnt werden. Dagmar Roth-Behrendt hält dieses Programm jedoch aus zwei Gründen für illusorisch. Zum einen komme es den Mitgliedstaaten zu teuer, weil danach bis zu acht Millionen Rinder getestet werden müssten,  bei einem Preis von 1 200 bis 2 000 Franken pro Test. Zum anderen könne man auch den Sinn dieser Tests anzweifeln, "weil man eine Erkrankung des Tieres erst ab einem gewissen Stadium der Infektion im Hirn erkennen kann. Es weiß aber niemand genau, ab welcher Infektiosität die Übertragbarbeit gegeben sein könnte." 

BSE-Tests, wie sie jetzt auch vom EU-Agrarministerrat beschlossen wurden, seien wichtig, am Grundproblem änderten sie jedoch wenig, kritisiert auch der Vorsitzende des Agrarausschusses im Europäischen Parlament, Friedrich Wilhelm zu Bahringdorf. Denn trotz aller Reformen halte die EU noch immer an einer Agrarpolitik fest, wie sie der in den 50/60er Jahren für die Landwirtschaft zuständige EU-Kommissar Sicco Mansholt entworfen habe: "Die Zielsetzung war, und das hat Mansholt ganz klar dargelegt, man muss die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse immer deflatorisch halten, d.h. man muss sie real immer senken, damit die landwirtschaftlichen Preise einen Beitrag leisten zur Stabilität des Geldes. Und dass immer weniger für Ernährung ausgegeben wird, immer mehr für Produkte industrieller Art übrig bleibt." 

Mansholt wollte eine gegenüber den USA konkurrenzfähige Industriegesellschaft aufbauen, in der der Landwirtschaft die Aufgabe zufiel, Rohstoffe zu liefern und Arbeitskräfte bereit zu stellen. Im Zuge dieser Politik wurde die Landwirtschaft immer mehr zum Zulieferer der Industrie, d.h. die Bauern erzeugten immer weniger Lebensmittel und immer mehr Agrarrohstoffe, aus denen dann die Ernährungsindustrie billige Lebensmittel für die Verbraucher produzierte. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Futtermittelindustrie, die das Futter herstellt, das der Bauer seinen Tieren zufüttert. Bei der Herstellung verwendet werden vor allem Getreide wie Mais, Weizen und Roggen, aber auch Tier- und Fischmehl sowie Abfälle der Lebensmittelindustrie wie Fette aus Bäckereien, Fast-Food-Betrieben und Imbissbuden. Das Öl dient als Bindemittel für die sonst trockenen Futterpellets, die Schweine, Hühner und Fische vorgesetzt bekommen. 

Beigemischt wird oft auch Tiermehl, das von zahlreichen Tierkörperbeseitigungsanlagen hergestellt wird. Dazu werden tote Haus- und Nutztiere vermahlen. Das Tiermehl ist eiweißreich und wachstumsfördernd. Seit dem letzten BSE-Skandal darf es nicht mehr an Rinder und Kälber, wohl aber noch an Schweine und Hühner verfüttert werden. Der an Krebsgeschwüren verendete, mit Medikamenten vollgepumpte Hund landet also ebenso im Tierfutter wie mit Antibiotika behandelte Pferde, Rinder und Schweine. Dazu sämtliche von der Schweinepest befallenen Tiere. Mögliche gefährliche Erreger sollen durch Erhitzen des Mehls abgetötet werden. Das Verfüttern von Tiermehl hat die französische Regierung jetzt verboten. 

Auch die Kommission plant nun schärfere Kontrollen und Vorgaben. Viele dieser Maßnahmen zur Verschärfung des Futtermittelrechts gehen aber den EU-Agrarministern zu weit. Ihr Argument: Das würde den Produktionsprozess von Lebensmitteln zu sehr verteuern. Darin sind sie sich mit der Mehrheit der Verbraucher einig. Folge: Es wird zwar noch mehr teure Kontrollen geben, aber zu einer Neuausrichtung der Agrar- und Lebensmittelpolitik insgesamt kann sich die EU auch nach 15 Jahren BSE-Krise nicht durchringen.

 

 

Michael Fischer
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