EU-Agrarreform

Riskanter Status quo

d'Lëtzebuerger Land vom 05.06.2003

Am Montag letzter Woche demonstrierten auch Luxemburger Landwirte mit rund 4 000 Kollegen aus Belgien, Deutschland und Frankreich in Contz-les-Bains gegen die EU-Agrarreform. Am selben Tag traten in Brüssel die Landwirtschaftsminister erneut zum Thema zusam-men. Dort, wie schon in den vergangenen elf Monaten seit der erstmaligen öffentlichen Vorstellung der Reformideen von EU-Agrarkommissar Franz Fischler, lehnte Fernand Boden die Pläne in der vorliegenden Form ab, und mit ihm tat das die Mehrzahl seiner Ministerkollegen.

Was Fischler will, ist nicht mehr und nicht weniger als der Einzug der Marktwirtschaft in die Agrarproduktion. Nicht mehr am Subventionsangebot aus Brüssel sollen die Bauern künftig ihre Produktion ausrichten, sondern an der Nachfrage. Statt Hektarprämien für Getreidefelder oder Kopfprämien für Mastbullen oder Mutterkühe soll jeder Betrieb eine jährliche Pauschalzahlung erhalten, die sich nach früher erhaltenen Subventionen und der bewirtschafteten Fläche bemisst. Das wäre eine Art Grundgehalt, das unverändert weiter fließt, selbst wenn weniger Tiere gehalten, anstelle Getreide Gemüse und Obst angebaut oder Äcker zu Weideland werden. Gekürzt werden könnte die Pauschalzahlung nur, falls der Be-trieb nicht leistet, was Fischler den "gesellschaftlichen Auftrag" nennt, "der nicht vom Markt bezahlt wird": Landschaftspflege, Umweltschutz oder artgerechte Tierhaltung. Was streng genommen bedeutet, dass auch ein Bauer, der gar nichts mehr produziert, mit einem gewissen Pauschalgehalt rechnen kann, solange er seine Flächen nicht völlig vernachlässigt.

 

Es ist dieser Punkt, an dem die vehemente Kritik aus Verbänden wie der Bauernzentrale oder dem Fräie Lëtzebuerger Bauereverband ansetzt: Öffentliche Gelder, losgekoppelt von Produktionsleistungen und gar für "Nichtstun", seien "der Gesellschaft nicht vermittelbar", sagt FLB-Präsident Aloyse Marx, sagt Bauernzentrale-Generalsekretär Lucien Haller, sagt Fernand Boden. Hinter dem philosophisch anmutenden Diskurs stehen handfeste Befürchtungen: Das Anrecht auf die Pauschalzahlungen soll handelbar werden. Stünde zum Beispiel einem Betrieb mit 100 Hektar Nutzfläche eine Pauschale von 10 000 Euro zu, erhielte er 100 Coupons à 100 Euro. Die könnte er verkaufen. Etwa an ei-nen Betrieb, der seine Produktion ausweiten will, Land neu erworben hat, doch für die neu erstandene Fläche über keine Gehalts-Coupons verfügt, weil bei deren Berechnung die zuletzt besessene Fläche zugrunde gelegt wird. Wenn der Schrumpfungs- und Konzentrationsprozess in der Luxemburger Landwirtschaft ohnehin seit Jahren ungebrochen ist, 1990 die Zahl der Agrarbetriebe laut Statec noch 3 280 betrug, 2001 noch 2 314 und im letzten Jahr 2 236; wenn dabei die durchschnittliche Hektarzahl pro Betrieb von 38,4 im Jahre 1990 auf 57,2 im vergangenen Jahr stieg, könnte das von Produktionsleistungen entkoppelte Prämiensystem dem noch weiteren Auftrieb verleihen. Immerhin ist die Demografie der heimischen Landwirte problematisch und verjüngt sich schwer. Die unter 45-Jährigen stellen zurzeit nur rund die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten im Sektor. "Gerade Ältere", glaubt Lucien Haller, "könnten aufgrund des neuen Systems verstärkt aufgeben wollen."

 

Auf sich zukommen sehen die Gewerkschaften auch Wettbewerbsprobleme. Ein bislang auf Rinderhaltung spezialisierter Betrieb etwa hätte ein Pauschalzahlungsanrecht, weil Weideland und Rindvieh zurzeit subventioniert werden. Stellte er seine Produktion auf ein bislang kaum prämienberechtigtes Verfahren um, etwa Schafzucht, könnte er preislich einen Betrieb unter Druck setzen, der schon immer - weitgehend unsubventioniert - Schafe aufzog. 

 

Ein dritter Einwand dreht sich explizit ums Geld: Gesichert blieben die Zahlungen vorerst nur bis 2006. Danach sollen sie stufenweise sinken und zum Teil in andere Agrartöpfe der EU umgeschichtet werden. Ausgenommen von dieser geplanten "Degressivität" und "Modulation" blieben allein Betriebe, die auf weniger als 5 000 Euro pro Jahr ein Zahlungsanrecht hätten. Das seien, erklärte Fischler vor drei Wochen während einer Konferenz in Athen zur Verteidigung seiner Re-form-vorschläge, immerhin 80 Prozent aller griechischen Landwirte. In Luxemburg, sagt Lucien Haller, "wären es unseren Berechnungen nach höchstens sieben bis acht Prozent". Schließlich ist Fernand Boden nach eigenen Worten stets darum bemüht gewesen, in Brüssel "so viel wie möglich an Prämien für unsere Bauern herauszuschlagen" (siehe das Land-Interview vom 20. April 2001). Dass im Jahr 2001 laut Be-rechnungen des Landwirtschaftsministeriums 40 Prozent der Betriebe einen Gewinn erwirtschafteten, der unter dem vom Statec ermittelten nationalen Durchschnittseinkom-men lag, illustriert, wie stark sich im Hochlohnland Luxemburg die Ein-kom-mensfrage für die Landwirte im Vergleich zu anderen Berufsgrup-pen stellt - nicht zuletzt für junge, angehende Betriebsleiter.

 

Allerdings ist die zuletzt vor eineinhalb Wochen im Agrarministerrat diskutierte Reformidee nicht mehr dieselbe, wie sie im Juli letzten Jahres vorlag. Damals hatte Franz Fischler noch gehofft, 20 Prozent der durch Degressivität und Modulation gekürzten Direktzahlungen umleiten zu können in Richtung der "Zweiten Säule" der EU-Agrarwirtschaft: der Entwicklung des ländlichen Raumes. Hoch gehalten wird das "développement rural" seit den Beschlüs-sen zur Agenda 2000. Seitdem fließen mehr an ökologische Kriterien geknüpfte Prämien, werden von der EU nationale Maßnahmen zur Förderung regionaler Qualitätsproduktion, Biolandbau, Dorferneuerung oder der wirtschaftlichen Diversifizierung auf dem Lande kofinanziert. Das Vorhaben, die "Zweite Säule" substanziell zu stärken, hatte durchaus zentrale Bedeutung im Reformpapier: Wenn schon Produktionsüberschüsse abbauen, dann auch neue Wertschöpfungsmodelle entwickeln helfen. 

 

Doch nach dem Widerstand vor allem Frankreichs - mit Abstand größter Subventionsempfänger -, wie auch Fernand Bodens, und nach dem EU-Osterweiterungsgipfel im Oktober letzten Jahres musste der Agrarkommissar sein Reformprojekt erheblich abspecken. Der Oktobergipfel hatte die Agrarmarktausgaben für die künftig 25 Mitglieds-staaten bis zum Jahr 2013 "gedeckelt" und Fischler gezwungen, nicht nur die EU-Osterweiterung, sondern auch die Reformierung verschiedener so genannter Marktordnungen vollständig aus Einsparungen zu finanzieren. Weil diese Einzelreformen zu starken Preissenkungen und Einnahmeausfällen der Betriebe führen werden, die wenigs-tens zum Teil kompensiert werden müssen, würde die Einkommenssicherung einen Großteil der für das "développement rural" vorgesehenen Mittel verschlingen. Anstelle 20 sollen nur noch sechs Prozent dafür übrig bleiben. Der Fonds für ländliche Entwicklung, der heute nur ein Zehntel der 45 Miliarden Euro schweren klassischen Agrarsubventionen ausmacht, wird erst in drei Jahren aufgestockt. Im Jahr 2012 sollen 1,48 Milliarden Euro hinzukommen, ein Viertel der ursprünglich vorgesehenen Summe. Ebenfalls gestrichen wurde das Vorhaben, die schrittweise Kürzung der Direktzahlungen für besonders arbeitsintensive Betriebe abzumildern und damit extensive oder biologische Produktion zu begünstigen.

 

Ebenfalls noch nicht die Rede war im letzten Jahr von der Reform des Milchregimes. Sie wäre potenziell hoch problematisch für Luxemburg, wo die Milchproduktion mit rund 50 Prozent den Hauptanteil der Agraraktivitäten ausmacht. Franz Fischler will nicht nur die Stützpreise absenken, im Gespräch ist außerdem die Erhöhung der produktionsbegrenzenden Milchquoten. Daraus dürften neue Überschüsse entstehen, die Erzeugerpreise fallen, weitere Konzentrationen folgen. Hier zu Lande, hatte der Service d'économie rurale beim Landwirtschaftsministerium ausgerechnet, könnten bereits unter dem geltenden Regime, das schon einen gestaffelten Preisrückgang vorsieht, kleine und mittlere Betriebe bei ihrer derzeitigen Kostenstruktur nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Und während die Konzentration andauert, von April 2000 bis Ende letzten Jahres 179 Betriebe ihre Produktion aufgaben und ihre Quoten an 303 verbleibende Betriebe transferierten, könnten nach Analysen der Bauernzentrale auch von den verbleibenden 20 bis 30 Prozent aufgeben müssen, falls die vorgesehen Preissenkungen erfolgen.

 

In der jetzt vorliegenden Form und mit den abgespeckten Begleitmaßnahmen erweckt der Fischler-Vorschlag den Verdacht, anstatt den Markt zu regulieren, ihn stärker zu segmentieren: hier die Biolandwirtschaft bzw. eine garantierte Qualitätsproduktion, die sich zu behaupten vermag, als Nische für die Betuchteren - dort einen Massenmarkt für Ottonormalverbraucher, unter Umständen mit genmanipulierten Nahrungsmitteln. Doch eventuell kommt es dazu doch nicht so ganz. In einer Aussprache mit dem Europaparlament am Dienstag schüttete Franz Fischler Wasser in seinen Wein und kündigte Zugeständnisse an, die er nächsten Mittwoch dem Agrarministerrat in Luxemburg vorlegen will. Sie könnten auch Fernand Boden arrangieren: Fischler spricht jetzt nur noch von einer Entkopplung der Prämien auf einzelne Produkte. Auch könnten benachteiligte Regionen bei der Prämienkürzung geschont werden - Luxemburg ist nahezu vollständig "benachteiligt". Denkbar sei auch ein Freibetrag der Prämienkürzungen von 7 500 anstelle 5 000 Euro. Auch im "Milch-Dossier" könnte es noch Bewegung geben.

 

Es bleibt die nächste Woche abzuwarten, um zu sehen, ob am Ende viel Lärm um nichts veranstaltet wurde. Grund zur Beruhigung wäre das auf lange Sicht nicht. Nicht nur, weil die EU-Agrarpreise unter WTO-Druck stehen. Gerade in Luxemburg ist der momentane Status quo nicht unproblematisch. Eine Strategie für eine Einkommenssicherung der Bauern auf lange Sicht fehlt. Dessen ungeachtet, produziert das Großherzogtum im Milchbereich um rund das Dreifache am Eigenbedarf vorbei, bei der Rindfleischerzeugung um 50 Prozent. Initiativen zur Organisierung regionaler Qualitätsprodukte wie in den Naturparks bringen zwar höhere Gewinnspannen, sind aber gleichwohl noch immer von Subventionen abhängig. (siehe d'Land vom 14. März 2003). 

 

Schritte, den Rindfleischüberschuss im großen Stil in eine artisanale Wurstfabrikation in den schlecht ausgelasteten Schlachthöfen zu lenken, stehen noch am Anfang (siehe d'Land vom 6. September 2002). Inwiefern ein Umbau der Produktion in Richtung Energiepflanzen sinnvoll sein könnte, harrt noch weiterer Untersuchung, und die Propagierung der Biogasproduktion zur lukrativen Strom-gewinnung auf den Höfen krankt unter anderem auch daran, dass das Umweltministerium erst jetzt eine Potenzialanalyse erstellen lässt.

 

Überdies kann man sich Fragen über die ökologische Verträglichkeit der heimischen Landwirtschaft stellen. Zwar ist sie kleinteilig organisiert und weitaus extensiver als der EU-Durchschnitt. Im Zusammenhang mit dem Spritzmittelskandal um Cap+ im vergangenen Jahr aber hatte die zuständige Verwaltung im Agrarministerium eingeräumt, man habe "keinerlei Statistik" über den Pestizideinsatz in Luxemburg - kontrolliert aber die Zuerkennung von EU-Ökoprämien (siehe d'Land vom 3. Mai 2002). Gleichzeitig stellt das Landwirtschaftsministerium in seinem Jahresbericht 2002 erneut fest, dass die Bauernbetriebe zum Teil "Besorgnis erregend" hohe Investitionen tätigen. Der umfassende Offenbarungseid bliebe dem heimischen Sektor jedoch um so mehr erspart, je weniger Reformdruck von außen entsteht. Und prinzipiell gegen die Konzentration war auch Fernand Boden noch nie. Rentabilité oblige.

 

Peter Feist
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