Theater

Ergreifend, überfrachtet

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2018

Christoph Rasches unscheinbares Bühnenbild – ein flacher Stoffbelag, der sich im hinteren Bereich gelblich im Halbkreis nach oben zieht –, wird in der Eingangsszene in kaltes Blau gebadet, Nebelmaschinen tauchen den Ort ins Ungewisse ein. Im Dickicht dieser Schwaden zieht eine weibliche Gestalt die Leiche eines vermutlich jungen Mannes von rechts nach links, schleift sie schweren Schrittes über den Boden, bevor zentnerweise Erdboden wie Dreck vom Himmel stürzt, um an das Gartenzimmer in Ibsens Gespenster zu erinnern und die Handlung teils in Rückblenden aufzurollen.

So lässt diese atmosphärisch ergreifende und vielversprechende Eingangsszene vermuten, dass die Witwe Helene Alving nicht nur ihren an Hirnweichheit verstorbenen Sohn, sondern auch den seit einem Jahrzehnt verblichenen Gatten hinter sich herzieht. Sämtliche Lasten ihres Lebens, das liederliche Treiben ihres Ehemannes, die unerbittlichen Forderungen nach sozialen Konventionen, Pflicht und Arbeit: Helene wird sie als Heuchelei enttarnen.

Regisseur Johannes Zametzer inszeniert Henrik Ibsens Gespenster in einer Koproduktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Mit Almut Zilcher in der Rolle der Helene Alving, Luc Schiltz als ihr Sohn Osvald, Götz Argus als Pastor Manders, sowie Martin Engler und Anouk Wagener als Tischler Engstrand und Tochter Regine bietet die Produktion ein starkes Darsteller-Ensemble, das Ibsens Werk sowohl gattungsmäßig als auch stilistisch in einen Theaterabend der Extreme verwandelt. Die eskalierende Handlung um Heuchelei und Doppelmoral im Kampf gegen den Mut zur Wahrhaftigkeit schwankt zwischen Grotesk-Komödiantischem und Momenten hysterischer Grenzerfahrungen hin und her.

Besondere Erwähnung sollte Luc Schiltz’ Interpretation als hirnerkrankter, für libertäres Gedankengut anfälliger Nachkomme finden. Die Mischung aus Freiheitsliebe und mentaler Zerrüttung des Osvald Alving findet ihren Ausdruck in der besonders intensiven Sprache des norwegischen Dichters, die durch Texte von Jacques Derrida und Charles Baudelaire verstärkt wird. Auch Martin Englers maßgeschneiderte Interpretation des angetrunkenen, sympathisch-hinterlistigen Ziehvaters fällt in einem insgesamt souveränen Ensemble auf.

Trotz eines abfallenden Spannungsbogens in der zweiten Hälfte der Produktion ist immer etwas los, fallen der Regie neue Details und Spektakel ein: Geschrei, Gepolter, komplexe Klangkompositionen, orgiastische Raufereien im Schlamm, pornografische Gestik auf der Rampe. Vom brennenden Asylheim mit einer Bühne in verschwommenem Blutrot über Schampusgurgeln und dem vergeblichen Versuch, das Kulissenbild im Freiheitsdrang zu überwinden, führen manche Kunstgriffe leider allzu oft zum Überfluss. Keinesfalls können hier sämtliche Regieeinfälle eines Theaterabends Erwähnung finden. Höhepunkt dieses Makels ist die minutenlange, heuchlerische Moralpredigt des Pastors gegen die vermeintlich anti-christliche Weltanschauung der Helene Alving. Was in den ersten Zügen eindringlich wirkt, artet nach wenigen Minuten zur überdrehten Albernheit aus. Argus wirkt in diesem Moment – neben anderen überaus starken Szenen – wie die Karikatur eines Demagogen. Selbst die beschwörenden Handbewegungen erinnern an die auf Brusthöhe verkrampften Kampfesfäuste verblendeter Rattenfänger.

Insgesamt liefert Johannes Zametzer eine kraftvolle Ibsen-Interpretation. Mit Christoph Rasche (Bühnenbild), Sophie Van den Keybus (Kostüme) und Martin Englers Klangarbeit steht der gesamte Abend im Dienst einer atmosphärischen Verdichtung, einer Frontalkollision von Pflicht und persönlichem Bedürfnis in ihren unterschiedlichen hypokritischen Ausführungen. Die Handlung bleibt ein typischer Ibsen, sieht man einmal von der aufgewerteten Flüchtlingsthematik ab. Formal jedoch greift Zametzer mit seinen teils originellen Ideen so intensiv ins Geschehen ein, dass die Inszenierung manchmal in schiere Überfrachtung abschlittert. Diese Arbeit ist oft überzeugend, in Momenten jedoch überdreht und bedient sich nicht selten einer Prise too much.

Gespenster von Henrik Ibsen; Regie: Johannes Zametzer; Regieassistenz: Victor-Joe Zametzer; Bühne: Christoph Rasche; Kostüme: Sophie Van den Keybus; Klang: Martin Engler; Requisite: Marko Mladjenovic; es spielen: Götz Argus, Martin Engler, Luc Schiltz, Anouk Wagener und Almut Zilcher; eine Produktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, wo das Stück Mitte Mai gespielt wird. Weitere Informationen unter www.ruhrfestspiele.de

Claude Reiles
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