„Krisenwahl“ 2009

Ängstlich konservativ

d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2011

Politikwissenschaftler wissen seit langem, dass Politikwissenschaft keine richtige Wissenschaft ist, sondern Restekochen aus Soziologie und Geschichte, Demoskopie und Journalismus. Deshalb können sie ihren Forschungsgegenstand auch besser beschreiben als erklären. Das bestätigt 474 Seiten lang die Studie Les élections législatives et européennes de 2009 au Grand-Duché de Luxembourg, die das Parlament bei Politikwissenschaftlern der Universität in Walferdingen gekauft hat. Denn sie beschreibt mehr, als dass sie erklärt, und bestätigt vor allem anhand der unvermeidlichen TNS-Ilres-Umfragen und von Stichpro­ben der Wahlzettel das Offen­sichtliche: dass aus Angst vor der Krise mehr Leute konservativ wählten

Auch wenn die Studie vorrechnet, dass die Wählerschaft zu 50,9 Prozent aus Rentnern, Hausfrauen, Studenten und Arbeitslosen (S. 238) sowie zu 50,4 Prozent der Erwerbstätigen aus öffentlichen und parastaatlichen Beschäftigten (S. 241) mit Arbeitsplatzgarantie bestand, so nannten die Wähler aller Parteien mit Ausnahme der Grünen diesmal Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise als die zwei größten Probleme des Landes (S. 70).

Vor diesem Hintergrund stieg gegen­über den vorigen Wahlen der Anteil der panaschierten Stimmen um ein bis zwei Prozentpunkte auf 48,01 Prozent (S. 152) oder gar 52,80 Prozent (S. 156), je nach Rechenweise. Was wohl auch damit zu tun hatte, dass die Wähler nur zwischen Personen wählen konnten, weil sich die allesamt „neokeynesianistischen“ (S. 425) Krisenprogramme der Parteien kaum unterschieden. Vielleicht federte das Panaschieren auch einen Links- oder Rechtsrutsch ab, denn es sei jeweils zu einem Nullsummenspiele gekommen: Im rechten und im linken Lager wechselten die Wähler eher die Partei als das Lager (S. 211).

Die CSV als große Wahlsiegerin verfügte über eine treue Stammwählerschaft. Trotz der Populariät ihres mit allen Listen panaschierten Spitzendkandidaten Jean-Claude Juncker erhielt sie mehr als die Hälfte an Listenstimmen (S. 152). Fast 90 Prozent ihrer Wähler hatten schon 2004 CSV gewählt (S. 298).

Laut Umfragen erwies sich die CSV als Volkspartei, die von Angestellten, Arbeitern, Beamten und Selbstständigen gleichermaßen gewählt wurde. Als populäre Partei verbuchte sie den höchsten Anteil an Wählern mit Primärschulabschluss. Als konservative Partei zog ihr Versprechen, Sicherheit zu gewähren, ältere Wähler an: Jeder dritte CSV-Wähler war im Rentenalter (S. 232). Und unter den CSV-Wählern gab es den höchsten Anteil von Menschen, die sich um die Folgen der Wirtschaftskrise sorgten.

Die LSAP war dagegen die Partei mit dem niedrigsten Anteil an Listenstimmen (S. 152): Offenbar halten die Wähler ihre Minister für besser als ihr Programm und ihre Krisenlösungen. Sie verlor vor allem Wähler an die CSV und an die Grünen. Die historische Arbeiterpartei bewegte sich weiter auf die Mittelschichten zu, auch wenn sie von etwas mehr Arbeitern und Beamten und etwas weniger Angestellten gewählt wurde. Für Jungwähler war sie leicht attraktiver, wurde dafür aber von deutlich mehr Männern als Frauen gewählt (S. 236). Auch bei ihr waren mehr als die Hälfte der Wähler älter als 50 Jahre. Am meisten gewann die LSAP außerhalb ihrer traditionellen Hochburgen, während sie in den bevölkerungsreichen Südgemeinden abgestraft wurde (S. 216): vielleicht verzieh man ihr dort nicht die Indexmanipulation von 2006.Die DP wurde von doppelt so vielen Selbstständigen wie CSV und LSAP gewählt, nachdem sie sich als Mittelschichten- und Mittelstandspartei dargestellt hatte. Wohl weil die Wähler rechter waren, war die DP dort am stärksten, wo die Linksparteien am schwächsten waren (S. 209). Die DP-Wähler waren jünger, weiblicher und gebildeter als die CSV- und LSAP-Wähler. Sie sorgten sich deutlich mehr um die Beschäftigung als um die Folgen der Wirtschaftskrise.

Nur zwei Drittel der DP-Wähler hatten schon 2004 liberal gewählt, dafür wurden die meisten Stimmen an CSV und Grüne verloren. Mehr als die Hälfte der Stimmen waren persönliche Stimmen, liberale Wähler sehen sich traditionell weniger nach Parteiprogrammen als nach prominenten Politikern um – was sich in Zeiten der personellen Erneuerung als riskant erwies.

Die Grünen schnitten, wie gewohnt, am besten in Gemeinden ab, wo viele Angestellte und Beamte und wenige Arbeiter und Arbeitslose wohnten (S. 217). Jeder zweite grüne Wähler arbeitet im öffentlichen Dienst (S. 242). Die ADR verlor dagegen am meisten dort, wo sie früher am stärksten war, in Agrar- und Arbeitergemeinden (S. 218), so als hätte sie sich mit ihrer verzweifelten Erneuerung von ihrer Wählerschaft entfremdet.

Die Linke unterscheidet sich deutlich von den Kommunisten, weil sie eher gebildete Mittelschichten anspricht (S. 232). Zusammen kamen Lénk und KPL auf ein Niveau, das sie seit den Siebzigerjahren nicht mehr hatten (S. 179).

Ansonsten bleiben die Autoren – die gerade für die „Krisenwahl“ diesmal auf eine Untersuchung des Wahlverhaltens nach Einkommensgruppen verzichteten – bei ihren rechtsliberalen Vorurteilen: dass das Wahlgeschäft eine angebotsorientierte Marktwirtschaft sei und alle politischen Erscheinungsformen um so pathologischer seien, je weiter sie von der Listenwahl für die CSV entfernt sind.

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Romain Hilgert
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