Milchquotenregelung

Aufstieg auf den Butterberg

d'Lëtzebuerger Land vom 10.09.2009

Kabelsalat ist im digitalen Zeitalter ein bekanntes Gericht. Doch wer hat schon mal bewusst von Analogkäse gekostet? Der hat nicht mit Hi- oder Lowtech zu tun, sondern bezeichnet Käse, der, man glaubt es kaum, keine Milch enthält. Analogkäse und andere Milch-Imitatprodukte sind aber nur eines der Probleme, mit denen die europäischen Milchbauern derzeit kämpfen. Sie haben sich gestern nach dem Streik im Sommer 2008 zum Bauernaufstand entschlossen. Dazu gehört, wie Wout Albers vom Luxembourg Dairy Board, der Luxemburger Filiale des European Milk Board, erklärt, auch ein erneuter Milchstreik. Der soll am heutigen Freitag in Luxemburg beginnen. Wie viele Wildentschlossene sich dem Streik anschließen werden, bleibt azuwarten.

Ursache für den Aufstand: Zwischen Ende 2007 und Anfang 2009 sanken die Milcherzeugerpreise in der Europäischen Union den Angaben der EU-Kommission zufolge um 28 Prozent, in Luxemburg betrug der Preisverfall gar 35 Prozent. Dabei  hatte das Preisniveau 2007 nie da gewesene Höhen erreicht, zeitweise über 40 Eurocent pro Kilogramm. Für einige Monate hatte es so ausgesehen, als ob die Liberalisierungsstrategie der EU – schrittweise Anhebung der Quoten bis zu deren gänzlichen Aufhebung 2015 – aufgehen könnte. Die Bauern fühlten sich von den bereits angehobenen Quoten in ihrem Expansionsdrang gehemmt. Es schien, als sei die sonst so schwerfällige europäische Landwirtschaft von Freudenjauchzern begleitet auf den Zug des globalisierten Handels gesprungen. Die Nachfrage, unter anderem aus China, war da, und die EU-Bauern waren bereit, sie zu den damaligen Weltmarktpreisen, die sowohl über dem durchschnittlichen EU-Erzeugerpreis als auch über dem EU-Interventionspreis lagen, zu bedienen. Interventionskäufe und andere Stützungsmaßnahmen? – Überflüssig, unsinnig. 

Umso schlimmer war der Absturz. Am Montag forderten die Schwergewichte Deutschland und Frankreich zusammen mit anderen Ländern beim EU-Agrarministertreffen in einer völligen Kehrtwende zu bisherigen Strategie ein zeitbefristetes Einfrieren der Quoten als Antwort auf die Milchüberproduktion in der EU. Seit den Hurra-Tagen 2007 und Anfang 2008 hat sich die Situation grundlegend verändert. Unter anderem ging die Dürreperiode in Australien und Neuseeland zu Ende, deren Produktion 2007 und 2008 völlig zusammengebrochen war und mittlerweile wieder funktionert. Unter anderem deswegen ist das Milchangebot auf dem Weltmarkt angestiegen. 

Die Nachfrage ist hingegen zurückgegangen. Weltweit, wie auch in der EU. In der Krise sparen die Konsumenten am Essen, scheint es, trinken den Kaffee schwarz und tun weniger Käse aufs Brot. Oder kaufen billigen Analogkäse. Es ist wieder alles wie vor den Jubeljahren: der Weltmarktpreis ist unter das Niveau des EU-Erzeugerpreises und des EU-Interventionspreises abgerutscht. Es gibt wieder Milchseen und Butterberge, und die Kommission macht sich mit Hilfe von Interventionskäufen wieder daran, diese zu erklimmen. Acht Prozent der EU-Butterproduktion hat sie bis Ende Juni gekauft, 81 900 Tonnen und 231 000 Tonnen Magermilchpulver. Weit mehr als die geplanten Maximalmengen, Kostenpunkt bisher: 350 Millionen Euro. Bis zu 600 Millionen Euro ist sie bereit, dafür auszugeben. 

In Luxemburg bedeutet das für die Bauern Folgendes: „Bei einem Fettgehalt von 3,7 Prozent und einem Eiweißgehalt von 3,4 Prozent zahlt die Muh augenblicklich 20,5 Cent, die Ekabe 21,2 Cent und die Luxlait 22,9 Cent das Kilogramm“, sagt Fredy de Martines, ebenfalls vom LDB, der vergangenes Jahr den Streik anführte.1 „Wenn wir aber nicht mindestens 30 Cent erhalten, legen wir Geld drauf“, so der Bauer. „Dann haben wir noch gar nichts verdient.“ 

Der Luxemburger Durchschnittshof liefert jährlich rund 340 000 Kilogramm Milch an die Molkerei. Fehlten in Schnitt acht Cent pro Kilo, würden über ein Jahr gesehen über 27 000 Euro fehlen, um die Kosten zu decken. Auf der gesamten Luxemburger Milchproduktion (280 Millionen Kilogramm) wären das zwischen 22 und 23 Millionen Euro. So warnen Bauernverbände in Luxemburg und der EU, aber auch Mitgliedstaaten vor einer Insolvenzwelle bei den Milchbauern. „Man muss schon gute Reserven haben, um das durchzuhalten und die Banken, mit denen wir uns vor Kurzem beraten haben, warnen uns, dass sobald die Liquiditätsprobleme einsetzen, man schnell in einen Abwärtsspirale gerät“, sagt das streikbereite LDB-Mitglied de Martines. 

Als Mittel gegen die Überkapazität fordern EMB und LDB seit Monaten eine Kürzung der Quoten um fünf Prozent und die Einrichtung einer Monitoringstelle, in Anlehnung an das Canadian supply management system, in der Vertreter aus Bauern- und Verbraucherverbänden, Politik und  Verarbeitung gemeinsam die Nachfrage überwachen und die Produktionsmengen entsprechend festlegen. Im Ministerium allerdings rät man den streikenden Bauern zur Vorsicht wegen des zu befürchtenden Imageschadens, den der Streik verursachen könnte. Der neue sozialistische Landwirtschaftsminister hält den Kurs des früheren CSV-Ministers. Romain Schneider wiederholte diese Woche, Luxemburg trete weiterhin für die Abschaffung der Quoten ein. „Wir können keinen Zickzackkurs fahren. Nicht nachdem etliche Betriebe schon in Vorbereitung der Quotenabschaffung investiert haben“, sagt er. Dass er sich mit dieser Position bei den Bauern unbeliebt macht, glaubt er nicht. „Die drei Bauerngewerkschaften stehen in dieser Sache hinter uns“, sagt er. 

Ganz so offiziell haben das die Gewerkschaften, Bauerenallianz, FLB und Bauernzentrale wohl noch nicht verlautbart. Aber Josiane Willems von der Bauernzentrale dementiert nicht. „Wir glauben, dass es auf EU-Ebene keinen Sinn hat, gegen den Strom zu schwimmen. Die Mehrheit der traditionellen Bauernorganisa-tionen in der EU wehrt sich im Übrigen nicht gegen die Abschaffung der Quoten“, rechtfertigt sie die Haltung und bezeichnet die EMB-Anhänger als eine „in vielen EU-Ländern marginale Gruppierung.“ Ob es nur einzelne Bauern sind, die sich von den traditionellen Gewerkschaften nicht mehr repräsentiert fühlen? 

Fredy de Martines zufolge sind 50 Prozent der Luxemburger Milchproduktion im LDB zusammengeschlossen. Das bezweifelt Willems von der Bauernzentrale ebenso wie die Wirksamkeit und Machbarkeit der EMB-Vorschläge. Die Quoten um fünf Prozent zu kürzen, bringe nichts, da die europäischen Bauern ohnehin im vergangenen Jahr über vier Prozent unter der Quote blieben, argumentiert Willems. Außerdem sei ein System, wie es LDB und EMB vorschlagen würden, in der EU mit ihrer Vielfalt an nationalen Gesetzgebungen nicht denkbar und drohe noch komplizierter zu werden als das aktuelle. 

Die drei Gewerkschaften FLB, Bauernzentrale und Bauerenallianz haben deshalb auf ihrem Wunschzettel, den sie dem Landwirtschaftsminister kürzlich überreichten, vor allem kurzfristige Unterstützungsmaßnahmen vermerkt. Die reichen von der zeitweiligen Übernahme der Solzialbeiträge durch den Staat – was zum Teil ohnehin schon der Fall ist –, über die Anwendung der De-Minimis-Regelung während zwei Jahren – dadurch könnte jeder Betrieb bis Ende 2010 mit bis zu 15 000 Euro bezuschusst werden, über die zinslose Stundung der geschuldeten Steuern, die Möglichkeit, steuerbefreite Rücklagen bilden zu können, die sofortige Auszahlung der ausstehenden Investitionsbeihilfen, der Einführung eines sektorspezifischen Zinssatzes bei Kreditaufnahme und eines sektorspezifischen Wasserpreises, eine höhere öffentliche Beteiligung an den Kosten spezifischer Beratungsprogramme und die Bereitstellung von Geldern für den Ausbau der Kampagne „Sou schmaacht Lëtzebuerg“. Mittelfristig fordern die Gewerkschaften „das Zurückführen der Umwelt- und Bauauflage im Agrarsektor auf ein erträgliches Maß sowie die Vereinfachung und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren“ sowie „eine verstärkte Förderung alternativer Energien aus Biomasse als wirtschaftlich rentable Alternative zur Milchproduktion“. Den Sprechern des LDB reicht das nicht aus. Sie wollen anstatt Beihilfen einen kostendeckenden Erzeugerpreis. „Sonst kann uns die Öffentlichkeit bald einfach ein Gehalt auszahlen“, so de Martines polemisierend. 

Willems ist aber nicht nur gegen eine Quotenkürzung, weil sie glaubt, dass dies nichts an der Überkapazität auf EU-Ebene ändert. Sondern auch, weil die Luxemburger Bauern – anders als die in unterproduzierenden Ländern – dann tatsächlich Produktionseinschnitte hinnehmen müssten. Weil Luxemburg zu den wenigen Ländern gehört, in denen die nationale Quote überschritten wird, das heißt, die Bauern mehr produzieren als sie dürften – und deswegen im vergangenen Jahr fast eine halbe Million Euro Supertaxe an Brüssel entrichten mussten. „Europa ist schön und gut“, sagt Willems, „aber dann muss man auch klar und deutlich sagen, was das heißt. Nämlich dass die Luxemburger Bauern dann weniger produzieren dürften.“ Josiane Willems zieht es also vor, wenn andere Bauern etwas gegen die Überkapazitäten in der EU tun, anstatt dass auch Luxemburger ihre Produktion drosseln. Und man kann sich auch fragen, ob die Gewerkschaften nur so lange und überhaupt hinter dem Minister stehen, weil ihnen die Erfahrung der vergangenen Jahrzente sagt, dass der, wenn es eng wird, die Brieftasche aufmacht. Denn eigentlich ist ja auch Willems gegen eine völlige Liberalisierung des Milchmarktes und wünscht sich im Anschluss ans Quotensystem eine Mengenregulierung zum Beispiel durch die Führung und Füllung der Lagerbestände für Krisenbewältigung, wie sie sagt – sprich durch Intervention.

Angesichts dessen scheint der Standpunkt von LDB und EMB zumindest etwas weitsichtiger – gegen eine Überproduktion hilft allgemein nur eine Produktionsverringerung. Wout Albers wehrt sich zudem kategorisch gegen den Vorwurf, mit einem erneuten Streik würden die Bauern die Konsumenten in Geiselhaft nehmen. „Es ist doch absurd. Die Quoten werden angehoben, es gibt eine Überkapazität. Dann gibt die Kommission Steuergelder für Interventionen gegen den Preisabsturz aus, der das Resultat der Überkapazitäten ist“, argumentiert Albers. Wenn sich die Bauern dagegen stark machten, machten sie sich im Endeffekt auch dafür stark, dass keine 600 Millionen Euro für Marktinterventionen und Exportsubventionen ausgegeben würden. „Das ist auch im Interesse der Steuerzahler.“ Überhaupt ist es fraglich, ob der Konsument durch den Streik geschädigt wird. Entlastet wird er durch die Erzeugerpreissenkungen nämlich nicht, das hat die Kommission in ihrem Bericht über die Lage am Milchmarkt eindeutig festgestellt. Denn während die um 35 Prozent fielen, stiegen die Konsumentenpreise in Luxemburg für Milch, Käse und Eier um fünf Prozent. Die Preisbewegungen werden nicht von einer Ebene der Produktionskette auf die andere übertragen. Die Kommissionsbeamten der Wettbewerbsabteilung wollen sich das Problem einmal näher ansehen. Das werten Bauerngewerkschaften hier als Indiz dafür, dass der Kommission nur an immer niedrigeren Konsumentenpreisen gelegen ist. Das mag sein, doch wenn der Kanal verstopft ist, werden die Bauern auch nicht von Konsumentenpreishaussen profitieren können. 

Die EU-Kommission ging am Montag nicht weiter auf die Forderungen aus Frankreich und Deutschland nach einem Einfrieren der Quoten – das frühestens mit Beginn des neuen Quotenjahres nächsten Frühling eintreten könnte – ein. Diejenigen  Forderungen, denen auch Luxemburg sich anschloss, werden wohl beim nächsten Treffen im Oktober diskutiert werden. Darin setzt sich auch die Luxemburger Regierung für eine Anhebung des Interventionspreises ein, also dem Preis, zu dem die Kommission Überschüsse aufkauft, einer Erhöhung der Exporthilfen, einer Wiedereinführung der Beihilfen für den Gebrauch von Pudermilch als Tierfutter fördern und bittet die Kommission, die aufgekauften Überschüsse erst dann wieder auf den Markt zu werfen, wenn sich die Situation stabilisiert. 

Dass die Kommission vorschlägt. die De-Minimis-Zuschüsse auf maximal 15 000 Euro anzuheben, finden Luxemburg und die Unterschriftspartner angesichts der Dimension des Problems unzureichend. Das ist logisch, denn diese Gelder müssten die Mitgliedstaaten aus der eigenen Haushaltskasse zahlen, und dort herrscht bekanntlich gähnende Leere. Die Produzenten dürften nicht allein „den Kräften des Marktes“ ausgeliefert sein, sondern in ihrer Rolle als Vertrags- und Verhandlungspartner im Herstellungsprozess gestärkt werden. Dass aber die Kommission wenig andere Maßnahmen vorschlägt, ist nachvollziehbar. Alles andere wäre konträr zu den Agrarreformen der vergangenen 15 Jahren, schreibt sie in ihrem Bericht an die Landwirtschaftsminister, und hat damit Recht. Sie ist der Liberalisierungslinie treu und findet, den Mitgliedstaaten stünden ausreichen­de Maßnahmen zur Verfügung, um „die Konsolidierung zu begleiten“. Nur geht eine „Konsolidierung“ in anderen Branchen meist mit Werksschließungen und Entlassungen einher, eine Tatsache, die weder die Bauernverbände, welche die Linie der Kommission stützen, noch die Mitgliedstaaten wahrhaben wollen.

Romain Schneider will dem Regierungsrat schnellstmöglich den Forderungskatalog der Bauernverbände unterbreiten. Wahrscheinlich werden dann die Sozialabgaben der Produzenten von der öffentlichen Hand übernommen und auch das Mehrwertsteuerausgleichssystem, in dem die Bauernbetriebe funktionieren, überdacht werden. Auch die Kampagne „Sou schmaacht Lëtzebuerg“ hat wohl gute Chancen auf Weiterführung, zumal solche aus Brüssel bezuschusst werden. Die Übernahme der Sozialabgaben dürfte den Bauern etwas Luft verschaffen, um die Liquiditätsengpässe besser überbrücken zu können. Doch wie lange das ausreichen wird, bevor die massiven Betriebsschließungen eintreffen, vor denen die Mitgliedstaaten in ihrem Schreiben an die Kommission warnen? Und wie lange werden die aufständischen Bauern den Streik durchhalten? „Das hängt auch davon ab, wie intensiv gestreikt wird. Was wir erreichen wollen, sind politische Signale aus Brüssel, dass ein Umdenken einsetzt“, so de Martines. Das kann dauern.

1 Unterschiedliche Angaben in den Medien und offiziellen Berichten beruhen einerseits auf den unterschiedlichen Fett- und Eiweißgehalten in der Milch, durch die verschiedene Preise entstehen, sowie auf Differenzen in den Mengenangaben. Die Preise werden normalerweise in Kilogramm berechnet, zwecks Umrechnung beträgt ein Kilogramm 1,02 Liter Milch.

Michèle Sinner
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