Resultate der Europawahlen 2004

Die Dritteleuropäer

d'Lëtzebuerger Land vom 17.06.2004

So neu und schon so müde. Erst seit sechs Wochen sind sie dabei im großen Europaverein, und schon schwänzen sie
die Wahl, verzichten auf ihr Mitspracherecht und lassen ihre ersten Landesvertreter kleinlaut, weil mit wenig Rückhalt ins Europäische Parlament ziehen. Nur jeder Dritte hat in den zehn Ländern, die am 1. Mai der EU beigetreten sind, eine Stimme abgegeben. Es hatte sich schon im Wahlkampf abgezeichnet, dass die Erweiterungseuphorie bald dem Grau des politischen Alltags weichen würde.
Die latente Skepsis in weiten Teilen der Neuropa-Länder war durch
die oft lauen Wahlkampagnen nicht gerade ausgeräumt worden. Der
Wahlkampf zwischen Tallin und Valletta lief ohnehin weitgehend ruhig,
keine Aufsehen erregenden Kampagnen, von Aufbruchsstimmung keine Spur.
Und die Botschaft an die Regierenden am Wahlabend hieß, wie fast
überall im großen Europa: so nicht. Wie denn, darüber
wurde nicht abgestimmt. Unzufriedenheit, Politikmüdigkeit, da und
dort nationalistische Töne und letztlich ein halbherziges: geht
doch nach Strassburg, gute Reise auch.
Im Baltikum wiesen vor allem die Esten und Letten ihre
Mitte-Rechts-Koalitionen in die Schranken und verweigerten den Parteien
ihrer amtierenden Ministerpräsidenten ein Mandat im EU-Parlament.
Zudem schwebte das „russische Gespenst" über der Wahl: Beobachter
in Lettland vermuten in der Politik der Mathematikerin Tatjana Zdanoka,
die betont auf harmonisches Zusammenleben von Letten und
Angehörigen der russischen Minderheit setzt, die Gegenbewegung hin
zur bislang relativ bedeutungslosen Nationalistenpartei „Für
Freiheit und Vaterland".
Das Minderheitsthema bestimmte auch in Litauen den Wahlausgang. Dort
erstaunte das kleine Wahlbündnis der polnischen und russischen
Minderheit „Zusammen sind wir stark" mit einem Achtungserfolg über
fünf Prozent. Doch auch die Populisten räumten ab: der
russischstämmige Geschäftsmann Viktor Uspaskich holte
für seine „Partei der Arbeit", die erstmals antrat, gleich 30
Prozent nach Hause. Die Wahl hat erneut gezeigt, wo die strukturellen
Probleme in den baltischen Staaten liegen. Große soziale
Ungleichheit, organisiertes Verbrechen und die Spaltung der
Bevölkerung in nationale Gruppen fordern die nationale Politik –
und sind nun auch Problem der EU.
Polens Präsident Aleksander Kwasniewski las seinen Mitbürgern
am Montag kräftig die Leviten. „Wir treten schwach in die
Europäische Union ein", polterte er im staatlichen polnischen
Radio. „Wir werden sarkastische Kommentare hören, dass wir zuerst
vor unserer eigenen Tür kehren sollen, bevor wir kontroverse
Vorschläge machen", sorgte er sich über den Einfluss der 54
polnischen Mandatare – die stärkste nationale Truppe aus den neuen
Mitgliedstaaten. Nur 20 Prozent der polnischen Wähler machten von
ihrem Stimmrecht Gebrauch – und stimmten vor allem für die
Populisten. Angst, in der EU nationale Besonderheiten aufgeben zu
müssen, mag ein Motiv für diese Wahl gewesen sein.
Da konnten die National-Klerikalen von der „Liga Polnischer Familien"
(LPR) unbehelligt mit antisemitischen Parolen arbeiten, und der Chef
der radikalen Bauernpartei Andrzej Lepper fordern: „Nicht auf Knien"
der EU zu Kreuze kriechen. Der Ex-Boxer, der dereinst Polens
Präsident werden will, verlangt nun beflügelt vom Zuspruch,
Neuverhandlungen über die EU-Zugehörigkeit. Spannend kann
werden, wie die Vertreter der Parteien ihre politischen Gewohnheiten im
europäischen Parlament ausleben werden: Mitglieder der
Bauernpartei besetzten bei Auseinandersetzungen gerne mal das
Rednerpult und die LPR-Abgeordneten ließen bisweilen mit
gemeinsamen lautstarken patriotisch-religiösen Liedern im
Parlament aufhorchen.
Attacken gegen die EU ritt auch Tschechiens Staatspräsident Vaclav
Klaus im Wahlkampf. Klaus, der aus seiner Skepsis gegenüber dem
EU-Beitritt nie ein Hehl gemacht hatte, könnte jetzt gar auf einhe
vorgezogene Parlamentswahl setzen.
Die Regierungskoalition, vor allem die Sozialdemokraten von Premier
Vladimir Spidla, hat ein Debakel erlebt und wird nur vier von 24
EU-Mandaten besetzen. „Die Euro-Naivität und die Befürworter
der gegenwärtigen Richtung der EU wurden besiegt", ist Klaus‘
Resümee.
In der Slowakei dagegen wurde die Regierungspartei, die
christdemokratische SDK, halbwegs bestätigt. Als Spitzenkandidat
konnte der legendäre Eishockey-Nationalstar Peter Stastny jedoch
nicht mehr als 17 Prozent der Wähler zur Abstimmung locken.
Die bescherten Regierung und Opposition eine Fast-Pattstellung, den
auch die HSDS von Ex-Premier Vladimir Meciar, der die Slowakei einst in
die völlige politische Isolation bugsiert hatte, erreichte fast 17
Prozent. Die Verteilung der Straßburger Mandate auf die
slowakischen Vertreter entspricht damit fast den
Kräfteverhältnissen im nationalen Parlaments.
Die rechte Opposition ist in Ungarn klarer Sieger. Die oppositionelle
rechtskonservative Fidesz (Junge Demokraten) setzte sich mit über
47 Prozent an die Spitze und schlug die regierenden Sozialisten weit
ab. Fidesz schickt demnach die Hälfte der 24 ungarischen
Abgeordneten nach Straßburg, die Sozialisten neun und die
Liberalen zwei. Die Sozialisten könnten sich mit einer sehr
kämpferischen Kampagne ins eigene Fleisch geschnitten haben: der
Slogan „Fidesz – die Lügenfabrik" und eine aggressive
Grundstimmung im Wahlkampf  hat möglicherweise viele
Stammwähler, vor allem in der Intelligenz, abgeschreck.
Dass die kleine Regierungspartei SZDSZ mit zwei Mandaten einen
überraschenden Erfolg eingefahren hat, läßt auf den
Aufstieg eine eigenständigen liberalen Alternative hoffen.
Beteiligungsmäßig versagt hat auch der Musterknabe unter den
EU-Neulingen. Die Slowenen hatten sich mit 90 Prozent für den
EU-Beitritt ausgesprochen – und dann gingen weniger als 29 Prozent zur
Abstimmung über das ferne Parlament.
Die Politiker selbst sind Schuld, heißt es nun, sie hätten
den Wählern die Bedeutung der Institution nicht eindringlich genug
erklärt. So kann sich der ehemalige christdemokratische
Regierungschef Lojze Peterle als einziger Gewinner fühlen.
Mit einer engagierten Kampagne hatte er als einziger einen erkennbaren
Wahlkampf geführt, war in die kleinsten Dörfer bekommen, hat
gar die mitregierenden Liberalen überrundet und zwei Mandate
erreicht. Die linksliberale Regierung geht nun mit Unbehagen auf die
Wahl im Herbst und fürchtet einen Ruck nach Rechts.
Der Generalsekretär der regierenden Nationalisten in Malta, Joe
Saliba, versteht die Welt nicht mehr. Da hat seine Partei Maltas
Beitritt zur EU vorangetrieben, und jetzt verweigerten die Wähler
ihr die Stimme. Die siegreiche oppositionelle Arbeitspartei wird dem
Votum entsprechend drei Abgeordnete nach Straßburg schicken, nur
zwei Mitglieder der Regierungspartei werden ihre Koffer packen.
Die Nationalisten haben wohl viele Stammwähler unter den
Geschäftsleuten verloren, die nach dem EU-Beitritt die Konkurrenz
billigerer Produkte zu spüren bekommen.
In Zypern gingen über 71 Prozent der Stimmberechtigten zur Wahl –
und sorgten so dafür, dass der Schnitt nicht völlig ins
Bodenlose sank. Die griechischen Parteien, die den
Wiedervereinigungsplan der UNO scheitern ließen, erhielten mit
zusammen 68,8 Prozent bei Weitem den größten Zuspruch und
stellen vier der sechs zypriotischen Mandate.
Zwei Sitze gehen an die rechtsgerichtete Demokratische Sammlungspartei
DISY des ehemaligen Präsidenten Glafcos Clerides, der den
Annan-Plan unterstützt hatte. Für die DISY wird der ehemalige
Außenminister Iannakis Cassoulides nach Straßburg gehen.
Die Wissenschaft indessen interpretiert die in ganz Europa gesunkene
Wahlbeteiligung als Ausdruck demokratischer Reife: Der Berliner
Staatsrechtler Ulrich Battis von der Berliner Humboldt-Universität
ist um eine Erklärung nicht verlegen: „Die Leute merken, dass die
EU demokratisch unterentwickelt ist. Die Wahl ist schlicht und einfach
das Echo darauf".
Die Menschen spürten, dass sie in der EU nicht genug Einfluss
hätten. „Im Kern ist das eine bürokratische Veranstaltung von
Regierungsvertretern, Lobbyisten und Beamten." Glaubt man Battis, haben
die Einwohner der Beitrittsländer mit ihrer kollektiven
Beteiligungsverweigerung ein unübersehbares Zeichen für ganz
besonders große EU-Reife abgegeben.
Erst sechs Wochen dabei, und schon europäischer als die
Alteuropäer.

Irmgard Schmidmaier
© 2023 d’Lëtzebuerger Land