Luxemburgs Schulen benachteiligen Arbeiter- und Migrantenkinder. Der erste Bildungsbericht birgt wenig Überraschungen – und ist trotzdem lesenswert

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d'Lëtzebuerger Land vom 01.05.2015

Männlich, aus bescheidenen Verhältnissen, mit Eltern, die nicht sehr gut ausgebildet sind und die kein Luxemburgisch, sondern eine andere Sprache sprechen – so sieht der typische Bildungsverlierer in Luxemburg aus. Dass das mehrsprachige Luxemburger Bildungssystem bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt, ist längst keine Nachricht mehr. Das haben internationale Bildungsstudien wie Pirls und Pisa und nationale Leistungstests ein ums andere Mal bewiesen.

Im kürzlich erschienenen Bildungsbericht Luxemburg 2015 werden diese und andere Fakten dennoch erneut zusammengetragen. Etwa dass sozial benachteiligte nicht-luxemburgische Schüler im Vergleich zu ihren Luxemburger Kameraden überdurchschnittlich häufig für den Régime préparatoire empfohlen werden, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen öfters Schwierigkeiten beim Lernen haben. Dass die Orientierung nach dem vierten Zyklus in der Grundschule die soziale Selektion verstärkt, und Migrantenkinder und Kinder aus Arbeitermilieus seltener den Weg ins begehrte Classique finden.

Alle diese Schwächen des Luxemburger Bildungssystems sind längst bekannt, geändert hat sich im Schullalltag dennoch nicht viel. Dafür wurde noch zu wenig an den entscheidenden Stellschrauben des Systems – wenn überhaupt – gedreht. Die Reform der Sekundarschulen steht aus, der neue Lehrer-Stage ist in der Planung, die Orientierungsprozedur wurde zwar vor wenigen Jahren leicht abgeändert, doch im Kontext der Schoolleaks-Affäre erneuerten die Gewerkschaften ihre Forderung, das Verfahren endlich fundamental zu überarbeiten.

Der Bildungsbericht, der laut Schulgesetz von 2009 alle fünf Jahre vorgelegt werden soll und mit dem das Erziehungsministerium die Uni Luxemburg beauftragt hat, ist trotz der vielen Déjà-vus lesenswert: Denn während der erste Band auf 47 Seiten Schlüsselzahlen und Fakten über die jüngste Entwicklung der Schülerpopulation, die Klassenwiederholung oder die Examensergebnisse beinhaltet, setzen sich im zweiten, 171 Seiten starke Band Bildungswissenschaftler mit zwei zentralen Aspekten des Luxemburger Schulsystems auseinander: der sozialen Ungleichheit und der Mehrsprachigkeit.

Streckenweise lesen sich die Beiträge allerdings so, als hätten die mehrheitlich deutschsprachigen Wissenschaftler die Komplexität des Luxemburger Schulsystems selbst erst entdecken müssen. So wird beschrieben, dass die meisten Schüler in Luxemburg mehrere Sprachen können. Zwischen 70 und 80 Prozent aller Jungen und Mädchen des Classique und des Technique texten mit ihren Smartphones, schreiben ihre Emails oder lesen in mehr als einer Sprache. Obwohl ein großer Teil der Jugendlichen angibt, daheim mit ihren Eltern ein und dieselbe Sprache zu sprechen, also monolingual aufwächst.

Dass die drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Luxemburgisch, von der Politik gern als besondere Pluspunkte des öffentlichen Bildungssystems verteidigt, sich für eine wachsende Schülerzahl als unüberwindbare Hürden erweisen, arbeiten die Wissenschaftler in verschiedenen Kapiteln heraus. Die hohen Sprachanforderungen – Luxemburgisch im Kindergarten und Précoce, Deutsch als die Sprache, in der die Kinder lesen und schreiben lernen, Französisch ab dem zweiten Zyklus, sowie die spätere Umstellung von der Unterrichtssprache Deutsch, respektive Luxemburgisch, auf Französisch betreffen Kinder, deren sprachlichen Hintergründe außerordentlich vielfältig sind: deren Eltern aus Kap-Verden, Portugal, Ex-Jugoslawien, aber auch Frankreich, England, Spanien, China und anderswo kommen. Ihr Sprachschatz ist entsprechend reichhaltig, nicht wenige kennen Wörter aus mehr als einer Sprache, bevor sie überhaupt die Schule besucht haben, selbst wenn dazu immer seltener Luxemburgisch gehört.

Wie die Prämissen des Sprachenunterrichts in der Grundschule auf die Schüler wirken, wie sie Lehrer vor eine große Herausforderung und eine große Verantwortung stellen, und sie sich zum Teil sogar widersprechen, untersuchen Sprachforscher der Uni Luxemburg. So sieht beispielsweise der Plan d’études der Grundschule vor, die vielfältigen sprachlichen Kompetenzen der Schüler zu berücksichtigen und in den Unterricht einfließen zu lassen. Das Zeugnis am Ende eines Zyklus aber bewertet jeweils nur die Leistungen in den Hauptfächern Deutsch, Französisch und Mathe. Sprachkompetenzen, die nicht die offiziell anerkannten Amtssprachen betreffen, werden ignoriert und fließen nicht in die Bewertung ein. Dabei hatte der Europäische Rat in seinem Länderbericht Luxemburg 2006 hiesige Bildungspolitiker aufgefordert, den reichen Sprachenschatz der Schüler stärker anzuerkennen. In Luxemburg hängt die Mathe-Note zudem nicht unwesentlich vom Sprachverständnis eines Schülers ab; ab der siebten Klasse wird Mathe statt in Deutsch in Französisch unterrichtet.

Ein Kapitel zeichnet die politische Geschichte der Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulunterricht nach: Die Autoren erinnern daran, dass, basierend auf den Empfehlungen des Europäischen Rates, der Sprachenaktionsplan der vorigen Bildungsministerin Mady Delvaux (LSAP) eigentlich vorsah, die Herkunftssprachen stärker zu berücksichtigen. Aber außer den (umstrittenen) Cours intégrés in Portugiesisch und einigen Pilotprojekten, wie in Esch, ist wenig Grundlegendes geschehen.

Die Wissenschaftler sind sich einig: Der Sprachenunterricht an Luxemburgs Schulen ist so konzipiert, dass jeder Schüler alle Amtssprachen auf exzellentem Niveau, irgendwo zwischen Muttersprache und Fremdsprache, sprechen können soll. Eine beachtliche Realitätsferne des Schulsystems, denn tatsächlich erreichen immer weniger Schüler dieses Ziel. Es ist dieser rigide Anspruch eines „Equilingualismus“, wie es die Sprachforscher nennen, die Vorstellung, dass ein Schüler am Ende seiner schulischen Laufbahn quasi alle drei Amtssprachen gleich gut sprechen und schreiben kann, der vielen Kindern von vornherein Steine in den Weg legt. Zudem werden die Sprachen nicht, wie es man es angesichts der behaupteten Bedeutung von Mehrsprachigkeit im Lehrplan erwarten könnte, flexibel eingesetzt, sondern getrennt voneinander unterrichtet und bewertet. So steht jede Sprache mit ihrer Didaktik für sich, Sprachvergleiche sind nicht vorgesehen, obwohl bekannt ist, dass bereits vorhandene Sprachkenntnisse beim Erlernen einer neuen Fremdsprache hilfreich sein können.

Die Autoren zeigen auch Lösungen auf: Sie plädieren für ein integratives und durchlässigeres Schulsystem, sowie eine „integrative Sicht auf Sprachen“. Ersteres kann als Hinweis auf den viele Jahre ideologisch umkämpften, inzwischen aber aus der Debatte gänzlich verschwundenen Tronc commun gelesen werden, muss aber nicht. „Wichtig ist, dass das Schulangebot stärker auf die Vielfalt der Schüler abgestimmt wird und dass Schüler, die vielleicht nicht die sprachlichen Kompetenzen haben, dafür aber in Mathe oder in den Naturwissenschaften gut sind, in unserem Schulsystem auch zu einem hohen Abschluss kommen können“, präzisiert Bildungswissenschaftler Romain Martin, einer der Autoren des Bildungsberichts, auf Nachfrage. Die schulischen Angebote zu erweitern und Lehrpläne so zu gestalten, dass sie der sprachlichen Vielfalt der Schüler mehr entgegenkommen, darauf setzte schon Claude Meischs Vorgängerin Mady Delvaux-Stehres, etwa mit dem englischsprachigen Baccalauréat international (BI) am Athenäum oder dem französischsprachigen BI am Lycée technique du centre. Für mehr Differenzierung soll auch die geplante Europaschule in Differdingen sorgen, die neben den zwei Hauptsprachen Französisch und Englisch Portugiesisch als Nebenfach anbieten soll.

Es gelte, starre Fächergrenzen im Sprachenunterricht aufzubrechen und echte Mehrsprachigkeit im Klassensaal zuzulassen, so lautet eine der Empfehlungen des Bildungsberichts. Das aber erfordere eine mehrsprachige Didaktik, die es in Luxemburg so nicht gibt. Fragt sich zudem, wer diese überhaupt entwickeln könnte. Luxemburgs Lehrer sind im dreisprachigen System aufgewachsen. Sie werden aufgrund ihrer exzellenten Sprachleistungen eingestellt. Viele halten am Sprachniveau und dem rigiden Fächerdenken fest, wie die heftigen Auseinandersetzungen rund um die Sekundarschulreform gezeigt haben.

Das ist das Neue am Bildungsbericht: Die Analysen könnten dazu beitragen, die emotionale Debatte über notwendige Schulreformen in Luxemburg, die derzeit feststeckt und bei der die Fronten sehr verhärtet sind, zu versachlichen, weil sie helfen, verschiedene Bildungsmythen und Überzeugungen auf ihre wissenschaftliche Relevanz zu überprüfen und einzuordnen. Die Forscher der Uni Luxemburg trauen sich erstmals, relativ geeint Position zu zentralen umstritten bildungspolitischen Themen zu beziehen – und liefern, sofern vorhanden, die nötigen Studien dazu. Bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Akteure aus dem Bildungssektor den Bericht lesen werden. Und daraus entsprechende Schlussfolgerungen ziehen.

Ines Kurschat
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