Pensionspoltisches Papier der Salariatskammer

Die Gegenrede

d'Lëtzebuerger Land vom 18.02.2010

Als die Union des entreprises lu­xem­bourgeoises im Juli vergangenen Jahres ihre rentenpolitische Studie vorstellte, war der Zeitpunkt dafür so gewählt, dass er möglichst noch die Bildung der neuen Regierung beeinflussen konnte: Die Sozialversicherung und die Zukunft des Pensionssystems gehörten zu den letzten Verhandlungspunkten zwischen CSV und LSAP.

Mit ähnlich viel Bedacht dürfte die Salariatskammer das Datum für die Publikation ihres Positionspapiers am Freitag vergangener Woche festgelegt haben: Keine drei Wochen, nachdem LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo erklärt hat, wollte man das Rentensystem langfristig absichern, müsse entweder die Zahl die Zahl der Beitragszahler auf „kaum vorstellbare 1,5 Millionen“ wachsen oder der Beitragssatz derart steigen, dass er die Beitragszahler „ersticke“. Und nur ein paar Tage, nachdem koalitions­intern ein Streit über die Aktualisierung des Luxemburger Stabilitätsprogramms und die von Finanzminister Luc Frieden angekündigten Sparmaßnahmen ausgebrochen war.

Deshalb ist die Rentenstudie der CSL kaum als bloße „Argumentationshilfe für die Gewerkschaften“ gedacht, wie ihr Präsident Jean-Claude Reding am Freitag vergangener Woche meinte. Mit ihr wendet sich auch der in der Salariatskammer mehrheitlich vertretene OGB-L an die ihm nahe stehenden Sozialisten. Demonstrativ erklärte Reding, sich vorstellen zu können, dass in einem halben Jahrhundert die Zahl der hierzulande Aktiven die Millionengrenze überschreitet. Und einen Handlungsbedarf zur langfristigen Absicherung des Pensionssystems sieht die CSL allein auf der Einnahmenseite.

Dabei ist die Kammer sich weitaus weniger sicher als die Generalinspek­tion der Sozialversicherung (IGSS) – geschweige die Union des entreprises –, dass der Handlungsbedarf wirklich so groß ist. Ging die IGSS im Frühjahr 2009 in einem vertraulichen Bericht an die 2008 zusammengetretene Ren­ten-Reflexionsgruppe der Tripartite davon aus, dass das Wirtschaftswachstum langfristig zwei Prozent im Jahresschnitt betragen werde und das Beschäftigungswachstum 0,5 Prozent (d’Land, 24.4.2009), erinnert die CSL daran, dass die IGSS noch Ende 2005 in ihrem jüngsten der alle sieben Jahre erscheinenden aktuariellen Berichte zur Rentenversicherung neben dem 2,2-Prozent-Szenario für das BIP-Wachstum auch ein Drei-Prozent-Szenario präsentiert hatte, und dass sie in ihrem Sonderbericht vom vergangenen Frühjahr die 2,2-Prozent-Aussicht „pessimistisch“ nannte. Dass Wirtschaft und Beschäftigung sich derart schwach weiter entwickeln, ergibt sich für die CSL zumindest nicht aus der historischen Rückschau: In den letzten drei Jahrzehnten habe das Beschäftigungswachstum im Jahresmittel bei 2,8 Prozent gelegen, erinnerte Jean-Claude Reding. Wie könne man dann davon ausgehen, dass nicht vielleicht doch jener 2,6-Prozent-Zuwachs erreicht werden kann, der nötig wäre, um das aktuelle System mit seinen hohen Rentenversprechen auch bis Mitte des Jahrhunderts zu finanzieren?

Dass ab 2020 eine Welle von Grenzpendlern mit einem Anspruch auf eine Luxemburger Voll-Rente in den Ruhestand treten wird, wie von der IGSS vorhergesagt, ist für die Sala­riats­kammer ebenfalls „zu hinterfragen“: Laut vom Differdinger Sozial­for­schungs­institus Ceps/Instead 2006 veröffentlichten Studie herrsche auf den von Arbeitnehmern aus den Nachbarländern besetzten Jobs eine erhebliche Rotation. Es gebe innerhalb ei­nes Jahres ungefähr so viele Abgänge wie Neuzugänge. Zu einer ähnlichen Einschätzung sei Ende 2009 auch das französische Institut national de la statistique et des études économiques für lothringische Grenzpendler nach Luxemburg gelangt. Man könne davon ausgehen, dass, statistisch gesehen, nur an die 60 Prozent der aktuell beschäftigten Grenzpendler sich dauerhaft beruflich in Luxemburg niedergelassen hätten.

Vor dem Hintergrund dieser Thesen fällt es der Salariatskammer leichter, Leistungskürzungen gleich welcher Art als „falsche Piste“, so Jean-Claude Reding, darzustellen: Immerhin waren es OGB-L und LCGB, die ab 1987 dafür sorgten, dass die Pensionen für im Privatsektor Beschäftigte immer weiter an die der öffentlich Bediensteten herangeführt wurden und die Rentenversprechen seither um 29 Prozent gewachsen sind. Von diesem politischen Prinzip kann die CSL heute schwerlich abweichen, und so nennt ihr Präsident die im EU-Vergleich hohen Renten eine „Errungenschaft, die in Luxemburg zum europaweit niedrigsten Stand an Altersarmut“ geführt hat, ohne präzisieren zu müssen, was er unter Altersarmut versteht.

Konsequenterweise sind für die Kammer Reformen nur bei den Einnahmen akzeptabel. Was sie vorschlägt, ist die Antithese zu den Argumenten des Patronatsdachverbands. Hatte die UEL gemeint, eine Entlastung des Pensionssystems auf der Ausgabenseite tue umso weniger weh, je früher man sie einleite, kontert die CSL mit dem Vorschlag, schon ab diesem Jahr die Beiträge zu erhöhen. Aktuell belaufen sie sich auf 24 Prozent der beitragspflichtigen Lohnmasse und werden zu je einem Drittel von den Versicherten, ihren Arbeitgebern und dem Staat getragen. Unterstellte man ein mittleres Wirtschaftswachstum von jährlich drei Prozent bis zum Jahr 2050, wie die IGSS es Ende 2005 in ihrem optimistischeren Szenario getan hatte, dann reichten, so die CSL, 32,1 Prozent Beitragssatz aus, damit in 40 Jahren noch Stabilität herrscht. Betrüge das BIP-Wachstum nur 2,2 Prozent im Jahresschnitt, wären 2050 38 Prozent nötig. Bliebe es bei der derzeitigen Drei-Drittel-Finanzierung, wären das 12,7 Prozent für alle drei beteiligten Seiten – Einwänden, dass der Wirtschaftsstandort seinen Wettbewerbsvorteil EU-weit beispielhaft niedriger Lohnnebenkosten verliere, kommt die CSL mit dem Verweis auf die Nachbarländer zuvor: Die Mehrkosten auf dem Bruttolohn für die Rentenversicherung lägen in Deutschland schon heute um 3,5 Prozentpunkte über denen in Luxemburg, in Frankreich 6,35 Prozentpunkte höher und nur in Belgien 0,76 Prozentpunkte unter denen hierzulande.

Aber eigentlich will die CSL, wie die UEL, mit Paketlösungen argumentie­ren, die einen Umverteilungscharakter hätten. Abschaffung des Beitragsplafonds ohne gleichzeitig die Leistungen zu erhöhen, lautet einer der weiteren Vorschläge der Salariatskammer. Koppelte man diese Maßnahme mit schrittweisen Beitragserhöhungen, dann müssten, den CSL-Berechnungen zufolge, im 2,2-Prozent-Wachstumsszenario die Beiträge bis 2050 nur auf 36 Prozent der Lohnmasse steigen und auf 28,5 Prozent im Drei-Prozent-Szenario.

Ein dritter Vorschlag zielt darauf ab, die Pflegeversicherungsbeiträge zu erhöhen und ihren Erlös in die Rentenkassen umzuleiten. Denn bei der Pflegeversicherung gab es noch nie einen Plafond, und es werden auch Kapitaleinkünfte berücksichtigt. Viertens plädiert die CSL für die Einführung eines wertschöpfungsabhängigen Arbeitgeberbeitrags.

Fünftens könnte die CSL sich vorstellen, dass man den Fiskalanteil an der Rentenversicherung noch weiter erhöht, indem Anteile aus der Einkommens-, der Körperschafts- oder der Mehrwertssteuer, oder vielleicht aus einer europaweiten CO2-Steuer, in die Rentenkassen fließen. Zu erwägen sei ebenfalls, die steuerliche Absetzbarkeit privater Kranken-, Lebens-, Todesfall- und Berufsunfähigkeitsversicherungen abzuschaffen – die dem Staat auf diese Weise ersparten Rückerstattungen an die Steuerzahler würde die CSL gleichfalls in die Rentenkassen umleiten. Und schließlich könnte man ein öffentliches Zusatzrentensystem aufbauen, in das die Arbeitnehmer freiwillig über ihren Pflichtbeitrag hinaus einzahlen.

Jean-Claude Reding vermied es deutlich, irgendeiner dieser Optionen eine Priorität zu geben und bezeichnete sie ausdrücklich als „Alternativen, vor der die Gesellschaft steht“. Denn letzten Endes läuft ein Rentensystem ohne Beitragsplafond bei gleichzeitiger Leistungsdeckelung dem Prinzip der Sozialversicherung zuwider, dass aus Beiträgen Leistungsansprüche erwachsen und käme einer Art „Besserverdienendensteuer“ gleich. Eine Wertschöpfungsabgabe, die vor allem kapitalintensive Unternehmen belasten und arbeitsintensive vielleicht sogar entlasten könnte, wäre ebenfalls hochpolitisch: Reding rechnete vor, dass nach CSL-Schätzungen die Wertschöpfungsabgabe für die Industrie ein Nullsummenspiel wäre, wogegen Baubetriebe mit Rückzahlungen rechnen könnten. Wie sinnvoll es makro­ökonomisch und fiskalisch wäre, am Dienstleistungsstandort ausgerechnet den Finanzsektor zusätzlich zu belasten, weiß die CSL allerdings nicht zu sagen.

Aber um die politische Praktikabilität ihrer Vorschläge scheint es ihr nicht in erster Linie zu gehen. Sondern eher darum, die begonnene Umverteilungsdebatte zuzuspitzen, ohne in dieselbe Polemik zu verfallen wie bei der Diskussion des Staatshaushaltsentwurf 2010 mit Handelskammer und Handwerkskammer – und dabei möglichst die LSAP zu einem Bekenntnis zu veranlassen. Einen blinden Fleck im Argumenta­tionsgebäude der CSL gibt es allerdings: Während sie sich immer wieder vorzurechnen bemüht, dass ein Paket aus Beitragsanpassungen so folgenschwer für die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe nicht sei, erwähnt sie nicht, wie sich vermeiden ließe, dass eine Mehrbelastung der Versicherten im Privatsektor durch Beiträge und Steuern sich negativ auf deren Wahrnehmung der Pensionen im öffentlichen Dienst auswirkt.

Peter Feist
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