Die kleine Zeitzeugin

X, das Kind

d'Lëtzebuerger Land vom 04.05.2018

Es ist erstaunlich, aber es gibt noch Menschen, die sich in das Abenteuer Schwangerschaft stürzen, freiwillig. Was ist ein Ausflug nach Afghanistan oder ein Bummel durch die Milchstraße gegen die neun Monate und das, was danach kommt? X, das Kind, ein echtes Abenteuer, das letzte vielleicht. Ausgang ungewiss, Garantien und Rückgaberecht gibt es nicht, und laut Berichten über die Expeditionen in die Pamper-Canyons lauern jede Menge Abgründe, manche sollen gar verschollen bleiben. Niemand weiß wirklich, was geschieht, was mit wem geschieht. Was wem geschieht. Die Elternteile schon gar nicht. Plötzlich sind sie welche.

Ruhm ernten diese Abenteurerinnen aber selten.

Warum tun Menschen so was, so etwas Irrationales, Archaisches, jetzt, im dritten Jahrtausend? Obwohl sie vielleicht schon mitgekriegt haben, wo das hin führt. Was dabei herauskommt, ein Mensch nämlich. Dieses Wesen, das, von seinen Wurzeln hypnotisiert, seinen Nabel beschaut, im besten Fall auf ein paar grüne Zweige kommt und darob graue Haare bekommt. Und ein paar Menschlein.

Warum eigentlich, jetzt, wo es so adrette Roboterinnen gibt, die einem Betagten auch etwas zu essen geben, sogar mit einem Scherzlein auf den zu einem Lächeln geschürzten Lippen? Man kann lebenslänglich weltreisen, sich selbst verwirklichen, sich entfalten, Oden verfassen, mittelalterliche Instrumente auf Gletschern spielen, Nägel mit Köpfen machen, mit verständnisvollen Robotern leben, die Welt verbessern – statt Schulaufgaben! Warum also dieses stressige Abenteuer called Kind?

Woher kommt dieser Drang des Weibes, sich zu runden, die Hände über dem Leib zu falten und versonnen zu schauen? Kinderwagenkataloge zu durchblättern – schon kommt der Kinderwagen angerollt, von online – und eine Puppenstube einzurichten; war es nicht gerade noch in einer Disko zuhause oder in einem Büro hoch oben über den Abgasen?

Woher rührt diese plötzliche Abneigung, nein, Allergie gegen Nachrichten? Warum kann Weib plötzlich Frauen aushalten, die von einer Kinderschar umringt unter einem Apfelbaum sitzen? Und wie ist es möglich, dass Mann, der keine zwölf Söhne braucht, um ihm den Acker zu bestellen, nicht schreiend Reißaus nimmt bei der Vorstellung, ein Schreihals könnte in sein Revier drängen? Seine Frau hat schon ein Stillkissen bestellt, was wird aus seiner Weltreise, aus seiner siebzehnbändigen Autobiografie? Schließlich steht er nicht unter der Droge, die Schwangerschaft heißt, er ist nicht hormonisch drauf. Warum nickt er narkotisiert, ja, meidet sogar schon betroffene Kollegen nicht mehr?

Projekt Kind, heißt es anfangs noch keck. Ein Wunder!, stammeln auch die aufgeklärtesten Zeitgenoss_innen, wenn es ihnen widerfährt.

Dabei wird ihnen die Wundergläubigkeit ordentlich vergällt. Das Abenteuer Schwangerschaft ist nicht geheuer. Das Wesen, das Elternteil weiblich, einst Mutter genannt, unter seinem Herzen trägt, wird penetrant unter die Lupe genommen, es scheint verdächtig zu sein. Es muss in aufwändigen Untersuchungen beweisen, dass alles mit ihm stimmt, dass es eine Berechtigung hat, da zu sein, in Bälde.

Das ist aber kein Zwang, nur ein Angebot. Das Wesen wird ausgeleuchtet, abgelichtet, sämtliche Körperbestandbestandteile werden vermessen und abgezählt, man will auf Nummer Sicher gehen. Schienbeine, Schädelumfänge, alles Drum, Dran, Drin. Nimmt es zu viel oder zu wenig zu? Ist es hyperaktiv oder hyperpassiv? Das werdende Menschenweslein muss einen Haufen Tests bestehen, immer kommt noch einer dazu, bis es endlich ein Genügend bekommt. Bis das wohlwollende ok gegeben wird, werdende Elternteile atmen auf, uff, alles okay. Bis zur nächsten Probe, zur nächsten Blut- und Urinprobe, die jetzt alles ausschließt, wirklich alles. Also mehr oder weniger. Quasi. Beinahe. Restriskant bleibe es immer, heißt es dann, so sei das Leben. Und genau darum handelt es sich ja.

Wobei man, um ganz sicher zu gehen – kostet ein bisschen was –, natürlich noch viel mehr ausschließen kann. Und den Kaiserschnitt kann frau selbstverständlich vorher buchen.

Damit sich das Kind nicht mit einem Köpfler ins Leben stürzt, wie ein Abenteurer.

Michèle Thoma
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