Im Gotteshaus

Der evangelische Abend

d'Lëtzebuerger Land du 27.01.2012

Nach der Besetzung der Wall Street und Österreichs lustwandeln wir durch die Dorotheergasse. Im Nebengebäude eines Gotteshauses werden wir Menschen gewahr, die sich eifrig beugen, vermutlich über mit Lebenselexiren gefüllte Kelche.

Im Gotteshaus, dem wir anstandshalber einen Besuch abstatten, nicken bärtige und eisgrauhaarige Menschen einander zu und reichen einander die Hand. Wir umschiffen gekonnt ein Bettelkörbchen, und stehen im Kirchenschiff herum. Vor uns umschlingt eine gelbe Nackte eine grüne Nackte. Die beiden Nackten hängen an der Wand. Sie sind Kunst. Wir sind ja in einem evangelischen Gotteshaus. Gelbe Hände hängen auch da, die grüne umklammern, und Menschen, die in einer Höhle fröhlich nackt sind. Mal was anderes als von Pfeilen durchbohrte Männerleiber, kalt wie Stein, umwindelte Lenden, und schmerzverdreh-te Augäpfel. Oder abgeschnittene Zungen. Oder auf unschuldsweißen Pölsterchen servierte Gebeinchen. Wir pseudobewundern allerhand Gebälk. So viel zu bewundern gibt es ja nicht in den evangelischen Kirchen. Der klobige Bauernschädel von Martin Luther mit seinem misstrauischen Blick schaut misstrauisch an uns vorbei.

Im angrenzenden Raum ist die Stimmung unter dem Gewölbe schon sehr gehoben. Die Bartquote ist hoch, vor allem die Weißbartquote. Die Frauen haben praktische Schöpfe, die eis- oder eisengrau sind, und meist die Ohren praktisch frei lassen. Ich diagnostiziere eine hohe Intelligenzdichte. Auffallend ist das Gelächter aus freiem Hals. Ich fühle mich wohl im lauten Lachen, das mir so deutsch vorkommt, so frisch, so frei, so fröhlich, inmitten der keck gereckten Kapitäns- und Knebelbärte. Schon steht eine Dame da, die uns direkt begrüßt und so unverblümt, dass WienerInnen Panikattacken erleiden könnten und sich unvermittelt schleichen könnten. Sie sagt zwar nichts besonders Beängstigendes. Nur, sie sei aus Ludwigshafen. Sie habe im Chor gesungen. Während ich Wein aus Zahnputzgläschen trinke, droppt meine Begleiterin ein paar passende Begriffe à la a cappella. Dann steht schon ein Herr da, der sagt, er sei aus Ludwigshafen. Auch ein Chorsänger. Zu Ludwigshafen fällt mir nur hässlich ein. Geschickt weiche ich auf Heidelberg aus, das man konventionell schön findet. Dass ich auf diesem Katzenkopfpflaster zwischen Neckar und biederen Berglein, zwischen Zwerg- Nase- Marktfrauen, „Zum Ochsen“ und Maoisten nur Kopfweh hatte, muss ich dem Ludwigshafener ja nicht auf die Nase binden. Wo mir auch nichts Choraffines einfällt. Aber der Ludwigshafener will eine Wiengeschichte loswerden, in der er in einem Bus beinahe im Graben gelandet wäre. Aber es war nicht einmal ein Fiaker, und er landete nicht einmal im Graben. Was für eine langweilige Wiengeschichte. Meine Heidelberggeschichte ist auch nicht besser. Der Ludwigshafener Chorsänger erzählt jetzt von einer neuseeländischen Mutter, die mit ihrem Geige spielenden Sohn all die Beethoven-, Mozart- und Schuberthäuser besucht hat und davon, dass dieser Neuseelandsohn vollkommen fertig war, weil es in Neuseeland kein einziges Mozart- oder Beethoven- oder Schuberthaus gibt. Eine Ludwigshafener Chorsängerin – mittlerweile habe ich den Eindruck, dass in diesem Gewölbe neben der evangelischen Kirche sich nur Ludwigshafener ChorsängerInnen aufhalten – ist auf einen Stuhl gestiegen und sagt, wie schön es in Wien ist, wie schön es war, hier als Ludwigshafener Chor zu singen und dass sie gern jederzeit wieder kommen wollen, um hier wieder zu singen. Dann redet sie von der Pfalz, und Visionen von Autobahnauffahrten nach Mannheim oder Kaiserslautern, wo man Technik studieren kann, von fetten Kurpfalzgrafen, und einem Kohl, der Saumagen isst, bedrängen mich. Die Pfälzerin weist noch auf den guten pfälzischen Wein hin, und dass der Ludwigshafener Chor ein paar Flaschen pfälzischen Wein nach Wien mitgebracht habe. Vielleicht erzählt sie das nur mir und meiner Freundin. Sonst sind ja in diesem vom lauten Ludwigshafener Lachen erfüllten Gewölbe nur genau gearbeitete deutsche Gesichter mit vernünftigen Bärten und rationalisierte Damenkurzhaarfrisuren. Die WienerInnen mit ihren Irgendwie- Frisuren haben sich längst leise verdrückt.

Michèle Thoma
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