Theater

Wenig Spielraum

d'Lëtzebuerger Land vom 04.05.2018

Die Winterstarre ist ein Zustand, in den etwa Frösche fallen, wenn die Temperatur unter das von ihnen tolerierte Minimum sinkt. Der österreichischen Autorin Astrid Kohlmeier (*1983) dient der Begriff als Leitmotiv und Metapher, um den Zustand von Menschen zu paraphrasieren, die psychisch krank sind, in eine Depression fallen und nicht nur selbst paralysiert erscheinen, sondern auch ihre Umwelt handlungsunfähig machen. An sich eine gute Idee, ein noch wenig bekanntes Thema auf die Bühne zu bringen. Doch die Inszenierung von Jean-Paul Maes in dieser Produktion des Kaleidoskop-Theaters im Bettemburger Schloss erweist sich als wenig nuanciert, und das, obwohl das Stück recht vielversprechend beginnt. Mit Elena Spautz tritt eine junge, hübsche Frau auf, spricht eine Person aus dem Publikum an und gibt flirtend von sich: „Ich bin allein, ich dachte nur, wir beide könnten gemeinsam feiern ...“. Der Schauspieler Neven Nötig erhebt sich gleichermaßen geschmeichelt wie peinlich berührt angesichts der schnörkellosen Anmache: Ein V-Effekt, der seine Wirkung tut!

Das Bühnenbild, das bis zum Ende des Stücks statisch bleibt, besteht aus einer Lichterkette, zwei Bistrot-Tischen, darauf: Weingläser. Die junge Frau nähert sich dem Fremden lasziv im samtroten Kleid und beginnt zu erzählen. Das Zusammentreffen von zwei Fremden in einer Bar wirkt wie eine zufällige Begegnung, und doch vertraut sich die junge Frau dem Fremden rasch an. Es sprudelt förmlich aus ihr heraus, bis sie einen gellenden Schrei von sich gibt, der einem durch Mark und Bein geht. „Wie sich selbst, seinen Zustand charakterisieren? Ein Wort: Winterstarre! Ich bin der Winterstarre begegnet.“ Hysterisch schreit sie heraus, dass sie manchmal sogar das Bett mit ihr teile. Ihr Blick ist irre. Eine Episode am Frühstückstisch kündete einst davon, dass das Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Der Vater versank in sich gekehrt und erwachte nicht mehr aus dem Zustand. Eindrücklich beschreibt die Tochter die Entfremdung von ihrem Vater. Der Kontrast zwischen den Figuren könnte kaum stärker sein: auf der einen Seite die junge Frau, auf der anderen Seite Neven Nötig als alternder Knacker (mal lüstern, mal in sich gekehrt, doch vom Schauspiel her beständig hölzern), der sukzessive die Bodenhaftung verliert.

Wenn Elena Spautz beklemmt davon berichtet, wie ihr Vater ihr Angst einflößte, wirkt das Ganze mehr wie eine nacherzählte Geschichte, als wie ein Theaterstück. Gleichmäßig plätschert die Handlung dahin, dramaturgische Höhepunkte bleiben aus. Ab und zu bewegt sich eine junge Kellnerin wie in Zeitlupe über die Bühne und balanciert Gläser auf einem Tablett. Pädagogisch kommt das Ganze zudem daher wie mit dem Hammer. Atemlos berichtet die junge Frau: „Niemand hat uns die Krankheit erklärt, wir waren hilflos“, woraufhin der Unbekannte resümierend feststellt: „Der Mensch fällt also auch in eine Winterstarre.“ Ein Bild prägte sich ihr ein: Ihr Vater, abgemagert und zerbrechlich; die Stimme leise bebend habe nichts mehr mit seiner eigentlichen Stimme zu tun gehabt ... Seine Stimme wiederholend: „Ich sehe kein Licht mehr!“ Die Beschreibung, wie ihr Vater in eine Depression versank, beklemmt zweifellos. Die Hilflosigkeit der Tochter transportiert sich, wenn sie gleichermaßen ungelenk betont: „Aber schau doch mal, was Du erreicht hast!“ Die Kommunikation zwischen Vater und Tochter ist gezeichnet von Missverständnissen und Verletzungen. Nötig erklärt überpädagogisch: „Wäre nicht die Seele, sondern der Körper verletzt gewesen, wäre es für alle einfacher gewesen.“

Die Schauspieler stellen die Szenen melodramatisch nach, etwa, wenn die Tochter mit Tränen erstickter Stimme erzählt: „Ich erschrak zutiefst, als ich erfuhr, dass er bereits auf den Gleisen gestanden hatte ...“ Das Fazit? Es sei wichtig (gewesen) in dieser schweren Zeit, bei ihm zu sein! Nötig wiederholt den Satz bedeutungsschwer, bevor der Vater aus der Winterstarre erwacht. Dank seiner Lieben, die alle für ihn da waren, hat er es geschafft. Am Ende verschmelzen das junge Mädchen und der Vater im Tanz aneinandergeschmiegt. Die Bühne ist in Rot getaucht. „Schließlich fand er ins Leben zurück!“ Ende gut, alles gut.

Es ist zweifellos ein Verdienst des Kaleidoskop-Theaters, immer wieder Tabuthemen aufzugreifen und durch seine Stücke zu sensibilisieren (so etwa auch 2014 mit dem Stück Vollmondbetrachtungen über Transsexualität). Die Inszenierung von Winterstarre erschlägt einen jedoch regelrecht in ihrer Eindeutigkeit und bietet wenig Raum für Nuancen.

Winterstarre von Astrid Kohlmeier, in einer Inszenierung von Jean-Paul Maes; mit: Neven Nötig und Elena Spautz; Musik: Gabriel Thibaudeau, eine Produktion des Kaleidoskop Theater; weitere Spieltermine im Bettemburger Schloss am 7., 8. und 9. Mai um 20 Uhr und am 10. Mai um 17.30 Uhr; www.kaleidoskop.lu.

Anina Valle Thiele
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