Grundkurs Deutsch, Fortgeschrittenenkurs Französisch? Angesichts der Lyzeumsreform schwanken Lehrkräfte und Schulen zwischen erfahrener Gelassenheit und heller Aufregung

Kluge bauen vor

d'Lëtzebuerger Land du 11.05.2018

„Sprachlehrer in Aufregung“ hatte das Land im März in seiner Schulbeilage getitelt und von ihren Sorgen angesichts der Umsetzung der Reformpläne im technischen Sekundarunterricht berichtet (d’Land vom 23. März). Am vergangenen Freitag griff der SEW die Problematik auf und legte verbal eine Schippe drauf: Kurz vor den Oktoberwahlen, so heißt es in einer Pressemitteilung der Lehrergewerkschaft des OGBL, nehme Erziehungsminister Claude Meisch (DP) „erhebliche Änderungen am Sekundarschulwesen“ vor und bewirke damit „vor allem eines: Chaos“.

Worum geht es: Statt der bisherigen Einteilung in leistungsstärkere Théorique- und leistungsschwächere Polyvalente-Klassen sollen ab nächstes Jahr die differenzierten Sprachkurse in den unteren und progressiv in den oberen Klassen des ehemaligen Enseignement secondaire technique, jetzt Enseignement secondaire général, starten. „Viele Schüler sind demotiviert, weil sie im Unterricht entweder überfordert oder unterfordert werden. Um sie geht es“, sagt Romain Nehs, Leiter der Sekundarschulabteilung im Bildungsministerium. Um Jugendlichen, die nicht sehr gut in Sprachen sind, aber dafür besser in anderen Fächern, einen Abschluss und spätere Hochschulstudien zu ermöglichen, wird künftig in Grund- und Fortgeschrittenenkurse unterschieden: Wer in der 7e mehr als 40 Punkte in Französisch oder Deutsch hat, darf den Fortgeschrittenenkurs besuchen, wer darunter liegt, ist im Prinzip für den Grundkurs empfohlen. Alle technischen Sekundarschulen sollen ab nächster Rentrée differenzierte Sprachkurse in den unteren Klassen anbieten. Dasselbe Angebot ab der 6e soll für das Fach Mathematik gelten, und ab der 5e dann auch in Englisch.

Die Gretchenfrage dabei lautet: Wie das Angebot kohärent gestalten? Und: Bleiben die besseren und die schwächeren Schüler in der Stunde beisammen, das heißt, werden unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Lerntempo durch unterschiedliche Aufgabenstellungen im gemeinsamen Unterricht berücksichtigt (so genannte interne oder Binnendifferenzierung), oder werden sie nach je nach Leistungsniveau in Gruppen getrennt (externe Differenzierung)?

Dass sich der SEW und mit ihm etliche Lehrer über die Änderungen aufregen, ist an sich schon bemerkenswert. Denn das Gesetz wurde im August verabschiedet. Zuvor war es nicht nur im Rahmen des Gesetzesverfahren von den politischen Parteien diskutiert worden, darunter die differenzierten kompetenzbasierten Sprachkurse, die schon damals keine Unbekannte mehr waren: Sie bildeten den Kern der Lyzeumsreform, wie sie Meisch Vorgängerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) geplant hatte – erste Vorentwürfe wurden den Schulen und Gewerkschaften bereits 2012 zur Stellungnahme übermittelt. Gewerkschaften und Lehrerkomitees mobilisierten damals massiv gegen die Reform. Dann stolperte die schwarz-rote Regierung über den Geheimdienstskandal – und die Dreierkoalition aus DP, LSAP und Grüne entschied sich kurzerhand, Delvaux’ umstrittenes Gesetzesvorhaben zurückzuziehen. Um keine neue Kontroverse zu provozieren, war Meischs Entwurf deutlich abgespeckt. Die Grund- und Fortgeschrittenenkurse waren jedoch darin enthalten. Schließlich hatten selbst die Hardliner der nationalen Lehrerdelegation ihnen zugestimmt.

Der SEW hält die Einführung trotz der Vorgeschichte für verfrüht. Schulen seien auf die Differenzierung (die interne und die externe) nicht vorbereitet, es fehle an „geeignetem Unterrichtsmaterial, erforderlichen Lehrbüchern, spezifischen Rahmenlehrplänen“. Die Gewerkschaft geht sogar so weit, zu behaupten, Schulleitungen würden aus „organisatorischer Bequemlichkeit“ eher die interne Differenzierung wählen, „dies zum Nachteil der Schüler“. Worauf die Gewerkschaft diese Behauptung stützt, bleibt im Nebel. Tatsächlich arbeiten seit mindestens 2006 gleich mehrere Lyzeen mit differenzierten Leistungsanforderungen in den Hauptfächern, nämlich jene, die sich am von Anne Brasseur 2003 ins Leben gerufenen Projet pilote cycle inférieur, kurz Proci, beteiligt haben. Kernstück des Modellversuchs, der dazu beitragen soll, die hohen Durchfallquoten im Technique zu reduzieren: eine engere Betreuung durch das Verbleiben im Klassenverband bis 9e, differenzierte Lernanforderungen und die automatische Versetzung von der 7e bis in die 9e.

Über die letzten 15 Jahre haben sich die Proci-Schulen unterschiedlich entwickelt: Manche, wie das Lycée technique du Bonnevoie, setzten auf die externe Differenzierung, das heißt, Schüler wurden in zwei Leistungsgruppen getrennt gefördert. Andere, wie das Lycée Aline Mayrisch oder das Redinger Atert-Lyzeum, setzen auf Binnendifferenzierung: Schüler bleiben zusammen und bekommen, je nach Lerntempo, unterschiedlich anspruchsvolle Aufgabenstellungen. Der Gedanke dahinter: Es gibt keine homogenen Lerngruppen, jede/r Jugendliche ist anders, muss gefördert werden und erhält die ihm/ihr angepasste Hilfestellung. Das Herzstück, im Sprachenunterricht und in der Mathematik zu differenzieren, haben alle neun Proci-Lyzeen gemein, insofern stimmt die Behauptung des SEW, die Schulen seien nicht vorbereitet, so pauschal nicht. Die Gewerkschaft zählt allerdings von jeher zu den Proci-Kritikern, weil sie den Mehraufwand für das Lehrpersonal fürchtet, was sogar zum Bruch mit langjährigen Mitgliedern führte, die den Proci unterstützen.

Dass Schüler von der pädagogischen Differenzierung nicht profitieren, stimmt ebenfalls nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Brachte eine Evaluation des Projekts nach wenigen Jahren gemischte Ergebnisse, so gaben die internationale Bildungsstudie Pisa sowie die Resultate der nationalen Leistungstests Épreuves standardisées den Unterstützern des Proci-Unterrichtsmodells bald Recht: Proci-Schüler wiesen in den Evaluationen deutlich bessere Leistungen auf als ihre Kollegen der Nicht-Proci-Schulen. Das war der Grund, warum sowohl die vorige Ministerin Delvaux als auch ihr Nachfolger Meisch, bestimmte Elemente des Modellversuchs verallgemeinern wollten.

Es sind diese Schulen, die der Neuerung gelassen entgegenschauen. Für sie ändert nicht viel. Auf einem Treffen der Direktoren am Montag und einem weiteren am Dienstag in Esch zeigten Vertreter von Proci-Schulen gangbare Wege auf, wie sich die Differenzierung auch organisatorisch kohärent umsetzen lässt. Ein langjähriger Proci-Lehrer des Lycée Aline Mayrisch in der Hauptstadt, das zu den Proci-Pionieren zählt, sagte dem Land: „Wir haben vieles ausprobiert und das System über die Jahre verfeinert.“ Einfach war das nicht, aber mit der zunehmenden Erfahrung wuchs auch die Akzeptanz. In Fachschaften beraten sich heute die Kollegen eines Faches, welche Aufgaben und Methoden sie anwenden, um überforderte Schüler besser zu unterstützen und unterforderte stärker zu fördern.

Für Lehrer und Schulen, die sich überhaupt nicht mit Differenzierung beschäftigt haben, ist die Umstellung dafür umso größer. Obwohl Differenzierung seit den 1980-ern in der Pädagogik und Bildungswissenschaften anerkannt ist und die Herangehensweise in Lehrerausbildungen etwa in England oder Finnland nicht fehlen darf, hat Luxemburg diesbezüglich Riesen-Nachholbedarf. Nicht zuletzt weil Sekundarschullehrer hierzulande Spezialisten ihres Fachs sind, nicht aber in pädagogisch-didaktischen Methoden. Das lernen sie erst im Stage, wo die Differenzierung mittlerweile Bestandteil des Lehrplans ist.

„Oft werden alle Schüler über einen Kamm geschert. Wir bieten oft allen dieselbe Aufgabe an, obwohl wir wissen, dass nicht alle dasselbe Lerntempo haben“, so Aloyse Trausch, Deutschlehrer und Vizedirektor am Atert-Lycée und im Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) für die Umsetzung der Sekundarschulreform zuständig. Dass es einige Vorarbeit braucht, bis unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten und Kompetenzen der Schüler berücksichtigende Kurse auf festen Beinen stehen, bis sich so etwas wie eine Praxis der Differenzierung in den Schulen etabliert hat, streiten weder Script noch Ministerium ab. Im Land-Gespräch hatte Claude Meisch im März eingeräumt, die Organisation der Differenzierung sei aufwändig, insbesondere bei kleineren Klassen. Er war aber optimistisch, dass Schulen die Aufgabe bewältigen können und hatte auf positive Erfahrungen mit dem Proci verwiesen.

Der Rahmenlehrplan etwa für die Fächer Deutsch und Französisch geht auf differenzierte Leistungsanforderungen nicht näher ein. Die nationalen Programmkommissionen sollen deshalb die Programme überarbeiten. Die darin beschriebenen Kompetenzen, die als Richtschnur gedacht sind, „müssen Lehrer im Prinzip heute unterrichten“, betont Romain Nehs. Sprachlehrer hätten beispielsweise in der 9e Polyvalente oder 9e Pratique denselben Stoff auf das jeweilige Niveau anpassen müssen, oft sogar mit denselben Schulbüchern. „Wir verlangen eigentlich nichts Neues.“ Jedenfalls nicht, wenn die Schüler in zwei annähernd leistungshomogenen Gruppen unterrichtet werden. Bei größeren Schulen lässt sich das organisatorisch besser bewerkstelligen, bei kleineren bietet sich eher die Binnendifferenzierung an.

Vertreter des Script sagen, sie hätten im vergangenen Jahr bei Schulen angeklopft, um mit ihnen über inhaltliche und organisatorische Aspekte der Differenzierung zu sprechen. Nur sei das Interesse damals nicht sehr groß gewesen. Manche Schulleitungen hatten es anscheinend vorgezogen, zunächst das betreffende Gesetz abzuwarten. Auch Fortbildungen zur pädagogischen Differenzierung für Sekundarschullehrer am Lehrerweiterbildungsinstitut in Walferdingen waren lange Zeit mehr schlecht als recht besucht, das allerdings könnte sich bald schon ändern. So sollen sich bereits erfahrene Lehrer gemeldet haben, um sich zu Multiplikatoren schulen zu lassen und ihr Können in Sachen Differenzierung an interessierte Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben.

Das Script plant zudem eine digitale Plattform, auf der nach Leistungsniveaus differenzierte Unterrichtsmaterialien gesammelt und geteilt werden können. Die kniffelige Frage der Prüfungen, im testzentrierten Luxemburger Schulsystem stets eine brisante, werde laut Aloyse Trausch derzeit in Arbeitsgruppen diskutiert: Die Palette reiche von unterschiedlichen Gewichtungen bei der Benotung, über komplexeren Aufgabestellungen für Fortgeschrittene bis hin zu getrennten Tests.

Dass diese Diskussionen und Vorarbeiten nicht allesamt abgeschlossen sind, könnte man dem Ministerium vorwerfen – wenn pädagogische Freiheit so verstanden wird, dass Lehrer in erster Linie ihren Unterricht halten, sie aber bei der Entwicklung pädagogischer Methoden außen vor bleiben sollen und das Ministerium das passende Handwerkszeug quasi fertig liefern soll. Dabei gibt es kein Rezept, das auf alle Schulen gleichermaßen passt. Außerdem dürfte dann der Vorwurf nicht weit sein, das Ministerium erarbeite Methoden und Materialien, ohne sich mit den Lehrern abzustimmen. Schulen sind im Rahmen ihrer Autonomie frei, eigene Schwerpunkte zu setzen und sich über Best practises zu informieren. Das dürfte ein – willkommener – Nebeneffekt der Reform sein: dass sich Schulen und Lehrer stärker über ihre Erfahrungen austauschen.

„Wir machen den Schulen keine Vorgaben“, betont Romain Nehs. Dass Schulen die – methodisch anspruchsvollere – Binnendifferenzierung aus organisatorischen Gründen vorziehen, wird im Ministerium nicht ausgeschlossen. Der Minister, sagt Nehs, soll für die Umsetzung auch mehr Ressourcen zugesagt haben. Dafür muss er jedoch zunächst einmal wiedergewählt werden. Aus pädagogischer Sicht macht es durchaus Sinn, Schüler im Klassenverband beieinander zu haben: Studien zufolge ziehen lernstarke Schüler schwächere mit, lernschwache Schüler fühlen sich durch gleichaltrige Vorbilder oft zu mehr Leistung angespornt.

Außerdem vereinfacht die Binnendifferenzierung den Wechsel, wenn jemand beim Lernen beispielsweise gute Fortschritte erzielt hat: Dann hat er oder sie die Aufgaben der leistungsstärkeren Kolleginnen zumindest mal gesehen oder davon gehört. Das sind alles Argumente, mit dem das Ministerium die neue Regelung skeptischen Eltern schmackhaft machen will. Nehs ist optimistisch, dass sich die Aufregung ohnehin wieder legt, sobald auch die anderen Schulen erste Erfahrungen mit der Differenzierung gesammelt haben: „Bisher gab es an jeder Reform auch Kritik.“ Vielleicht kann Ansporn sein, dass neben den Proci-Schulen die Unterscheidung in Grund- und Leistungskursen an vielen Sekundarstufen im Ausland längst alltägliche Unterrichtspraxis ist. An manchen seit über 25 Jahren.

Ines Kurschat
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