Juristen bemängeln die Willkür und Unverhältnismäßigkeit eines in den Verfassungsrang erhobenen Ausnahmezustands

Nur die Regierung kann uns retten

d'Lëtzebuerger Land vom 27.05.2016

„Bisher gab es keine große Diskussion und keinen großen Widerspruch.“ Auch die CSV im parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision sei mit der Änderung von Artikel 32.4 der Verfassung einverstanden gewesen, meinte am Dienstag zufrieden Ausschussvorsitzender Alex Bodry. Der LSAP-Abgeordnete ist der Autor des Revisionsvorschlags, mit dem die Verfassung der Regierung die Möglichkeit einräumen soll, künftig auch bei nationalen Krisen und einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung den Ausnahmezustand zu erklären und bestehende Gesetze außer Kraft zu setzen.

Der Staatsrat hatte schon 2013 vorgeschlagen, die in der Verfassung vorgesehene Möglichkeit des Ausnahmezustands nicht bloß auf internationale Krisen zu beschränken. Nach den Terroranschlägen im November in Paris sah die Regierung den Zeitpunkt für gekommen, um diese Verfassungsänderung so schnell wie möglich vorzunehmen, ohne die große Gesamtrevision der Verfassung abzuwarten. Alex Bodry hinterlegte im Ja­nuar den entsprechenden Text im Parlament, nun wartet man auf das Gutachten des Staatsrats. Bisher begutachtete lediglich die Berufskammer der Beamten und öffentlichen Angestellten den Vorschlag, streckenweise sehr kritisch.

Um die laut Alex Bodry weitgehend ausgebliebene Diskussion über den Ausnahmezustand nachzuholen und sich in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, hatte das 2012 mit großzügigen staatlichen Mitteln gegründete Max-Planck-Institut für Verfahrensrecht eine Podiumsdebatte auf dem Kirchberg organisiert. Dabei zeigte sich, dass unter den versammelten Juristen die Meinungen geteilt waren, ob die Verfassung überhaupt die Möglichkeit des Ausnahmezustands vorsehen soll. Aber einig war man sich, dass der von Alex Bodry eingebrachte Vorschlag die rechtsstaatlichen Prinzipien ungenügend schütze.

Der laut Alex Bodry weitgehend ausgebliebene Widerspruch kam gleich in geballter Ladung im Einführungsreferat von Stefan Braum, dem Dekan der Fakultät für Recht, Wirtschaft und Finanzen der Universität, der bereits im Lëtze­buerger Land am 11. Dezember 2015 das Revisionsvorhaben schonungslos kritisiert hatte. Für den Strafrechtler stellt der Ausnahmezustand „den Tod des Rechtsstaats“ dar, er sei das Trojanische Pferd der totalen oder gar der totalitären Kontrolle, denn man könne die Freiheit nicht verteidigen, indem man sie beschneide. Im Kampf gegen den Terrorismus sei das Strafrecht dabei, zur Kontrolle von Risiken und Bedrohungen überzugehen, und wenn die bestehenden Instrumente erschöpft scheinen, folge als nächste Etappe der Ausnahmezustand. Stefan Braum wehrte sich dagegen, dass oft so getan werde, als ob der Staat machtlos gegenüber dem Terrorismus und deshalb ein Ausnahmezustand nötig sei. In Wirklichkeit sehe das Strafrecht jede Menge Mittel vor, die es anzuwenden und notfalls zu ergänzen gelte.

Auch der ehemalige Oberstaatsanwalt Roby Biever wehrte sich gegen die Vorstellung, dass der Rechtsstaat im Fall eines terroristischen Angriffs machtlos sei. Zudem würden gerade wieder die Mittel der Strafverfolgung ausgeweitet, etwa mit der Reform der Hausdurchsuchungen. Roby Biever war allerdings nicht dagegen, dass die Verfassung die Möglichkeit des Ausnahmezustands vorsieht. Er hielt es jedoch für angebracht, dessen Ausübung gesetzlich zu regeln. Außderdem fragte er sich, ob der Terrorismus nicht eine ständige Bedrohung sei, so dass es widersinnig wäre, den Ausnahmezustand in jedem Fall befristen zu wollen. Auch der Verfassungsrechtler Luc Heuschling meinte, dass der Ausnahmezustand höchstens sechs Monaten dauern solle, im Zweiten Weltkrieg Luxemburg aber fünf Jahre besetzt war.

Der linke Ex-Abgeordnete Serge Urbany erinnerte daran, dass mit Viginat und anderen Krisenplänen für Katastrophen zahlreiche Vorkehrungen getroffen seien, damit die Sicherheits- und Rettungskräfte rasch ihre Arbeit tun könnten, ohne dass der Ausnahmezustand verhängt werden müsse. Er erzählte, dass der parlamentarische Ausschuss sich zuerst vorgenommen hatte, das bestehende Rechtsarsenal auf die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung hin zu prüfen, doch nach den rezenten Terroranschlägen habe man wegen der „veränderten politischen Lage“ darauf verzichtet und sich auf die Reform des Ausnahmezustands konzentriert.

Für den Anwalt Frank Wies waren die Attentate von Paris bloß der willkommene Anlass, um die seit Jahren geplante Revision in die Tat umzusetzen. Während zehn Tagen solle die Regierung künftig tun und lassen dürfen, was sie wolle, während in Frankreich immerhin ein Gesetz die Ausübung des Ausnahmerechts regele. Aus ähnlichen Überlegungen heraus forderte die Jura-Doktorandin Véronique Bruck, dass Verfassungsartikel 32.4 nicht geändert, sondern abgeschafft werde. Den Ausnahmezustand in eine nicht hierarchisierte Verfassung zu schreiben, bedeute, ihm den gleichen Rang wie den Grundrechten einzuräumen und ermutige die Exekutive, sich dieses Mittels zu bedienen. Wobei selbst Grundrechte nicht vor dem Ausnahmezustand sicher seien: Bei den meisten Grundrechten sehe die Verfassung vor, dass ihre Wahrnehmung durch Gesetz geregelt werde, so dass die Regierung diese Rechte im Ausnahmezustand nach Gutdünken durch Reglemente mit Gesetzeskraft beschneiden könne.

Alex Bodry war aber gegenteiliger Meinung: Wenn das Strafrecht ausgeweitet würde, um auf Krisensituationen zu reagieren, drohten der Ausnahmefall und die dafür vorgesehenen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten zum Normalfall zu werden. Deshalb sei es vorsichtiger, die Möglichkeit des Ausnahmezustands zu bieten und durch eine zeitliche Befristung und eine parlamentarische Kontrolle einzugrenzen. Er wollte jedoch nicht unbedingt auf die Kontrollfunktion des Parlaments vertrauen, denn dieses passe sich nach seiner Erfahrung rascher öffentlichen Stimmungen an als die Regeirung. Im parlamentarischen Ausschuss habe es auch die Meinung gegeben, dass Terrorismus im Grunde eine internationale Krise sei, so dass er laut Verfassung bereits heute die Verhängung des Ausnahmenzustands erlaube.

Luc Heuschling bemängelte, dass der Ausnahmezustand von der trügerischen Idee ausgeht, dass in einer Krise nur die Regierung oder gar der Großherzog uns retten könnten. Trotzdem sah er das alles pragmatisch: Viele Leute wollten Ausnahmeregeln für Ausnahmesituationen, und der Rechtsstaat sei kein Ziel an sich, sondern eine Regel. In Ausnahmesituationen müssten die Regeln zurückgedrängt werden. Am meisten beanstandete er, dass in dem vorliegenden Entwurf die Verhältnismäßigkeit unberücksichtigt bleibe. Denn im Leben gebe es nicht eine Normal- und eine Ausnahmesituation, sondern viele verschiedene, graduell unterschiedliche. Eine andere Frage sei die der Effizienz, meinte der Verfassungsrechtler und hob den Revisionsvorschlag mit spitzen Fingern in die Höhe: „Wenn Cattenom explodiert, rettet uns dann dieser Text?“

Am Ende der Diskussion beschwichtigte der ziemlich isolierte Alex Bodry, dass sein Textentwurf durchaus verbesserungsfähig sei und die Regierung ihn sicher nicht missbräuchlich auslegen werde. Doch mehrere andere Sprecher sorgten sich, dass der geplante Verfassungsartikel viel zu vage sei, um nicht eines Tages einer anderen, autoritäreren Regierung eine gefährliche Auslegung zu gestatten. Deshalb hatte Stefan Braum schon ganz zu Beginn mit Immanual Kant aufgerufen zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Historische Präzedenzfälle im Umgang mit dem Ausnahmerecht oder Terrorismus scheinen ihm recht zu geben, wie der Artuso-Bericht und der Bommeleeërten-Prozess zeigten.

Romain Hilgert
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