Das Internet bringt die Geschäfte der Telefonzentralen in Bedrängnis

Facebook killed the Call Centre Star

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2013

Hallo! Sie sind ein Gewinner! Ich freue mich, Ihnen heute ganz persönlich die neusten Trends der Kunden-Beschwichtigung vorzustellen: Wussten Sie schon, dass Call-Center gar nicht mehr so heißen?

Im Februar fand in Berlin, schon zum 13. Mal, der europäische Branchentreff der Telefonisten statt. Unter einem neuen Namen: nicht mehr „Call Center World“, sondern kurz „CCW“. Nach Veranstalter-Angaben kamen 7 500 Besucher aus 16 Ländern zu dieser größten einschlägigen Fachmesse. Ihr Motto war „Weil Kunden nicht nur anrufen...“ Man müsse nun „Contact oder Customer-CareCenter“ sagen, da sie auf verschiedenen Kanälen mit den Kunden kommunizieren.

Das heißt, das würden sie gerne. Denn in den Konzernen haben sich meist die Marketing-Abteilungen die Zuständigkeit gesichert für Facebook, Google+ und alles, was sonst noch social, cloud und hip ist. Die Leute mit Kopfhörern und Mikrofonen, oft outgesourct, kommen dagegen kaum weg von den allseits unbeliebten und schlecht bezahlten Telefonaten.

Vor 40 Jahren soll der Amerikaner William Durr den ersten Automatic Call Distributor installiert haben, um bei einer Fluggesellschaft alle Anfragen zentral in einer Abteilung zu bearbeiten. Damit der Rest der Firma seine Ruhe hat. Seither schicken ACD-Geräte Anrufer je nach vermuteter Wichtigkeit und Kaufkraft in Warteschleifen oder verbinden sie mit Telefon-Agenten. In Deutschland auch mit „Servicefachkräften für Dialogmarketing“ (zwei Jahre Ausbildung).

Aus der einfachen Idee zum Abwimmeln von Lästlingen hat sich eine ganze Industrie entwickelt. Laut dem Dachverband ECCCO gibt es derzeit in Europa mehr als 35 000 „Kontakt-Zentralen“ mit 3,2 Millionen Angestellten, was einem Prozent der aktiven Bevölkerung entspreche. Mehr als 70 Prozent dieser Arbeitskräfte seien Frauen. Die meisten Call-Center gebe es in Deutschland, in Großbritannien die meisten professionellen Quasselstrippen. Zwei Drittel aller Anrufe seien „inbound“, also Anfragen von Kunden.

Die Opfer von Outbound-Drückerkolonnen und unerwünschten Cold Calls können hoffen: Ralf Mühlenhöver, der Geschäftsführer des Software-Herstellers Voxtron, erwartet für 2013, dass „der aktive Telefonverkauf aufgrund der gesetzlichen Regelungen und der fundamental negativen Einstellung der Verbraucher auf ein Mindestmaß zurückgehen“ wird. Dazu passt, dass das neue deutsche Telekommunikationsgesetz ab Juni Warteschleifen kostenfrei machen wird.

In Deutschland arbeiten laut einer Studie des dortigen Call-Center-Verbands in rund 6 900 Anrufzentralen 520 000 Menschen, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Nun aber „hat sich das Wachstum deutlich verlangsamt“. Im vergangenen Jahr habe es praktisch keine Neueröffnungen mehr gegeben. Gleichzeitig seien derzeit mehr als 20 000 Stellen unbesetzt, davon 40 Prozent für Stabs- und Führungskräfte, auch weil den Bewerbern Multimedia-Fähigkeiten fehlen würden. Aus den Zahlen gehe eindeutig hervor: „Die Branche wird ein neues Profil bekommen.“

„Social Media“ setzen die Betreiber von Hotlines unter Druck: Smartphone-Apps, Internet-Foren und How-to-Videos lassen das Anruf-Volumen deutlich zurückgehen. Die verbliebenen Kunden sind dafür umso anspruchsvoller – und haben im Internet mehr Beschwerdemöglichkeiten als je zuvor. Onholdwith.com zum Beispiel scannt und veröffentlicht wütende Twitter-Nachrichten zu Warteschleifen. Der kanadische Call-Center-Ausrüster Fonolo empfiehlt in diesem Zusammenhang „virtuelles Schlangestehen“ (Rückrufe, wann es dem Kunden passt) und „emotionale Sprachanalyse“ (wer frustriert schreit, wird schneller bedient).

Was bleibt in Zeiten von Like-Buttons und Online-Shops für Call-Center übrig? „Das Wertvollste, die Sprachkommunikation von Menschen“, meint Günter Greff, der dazu einen „Beratungsbrief“ herausgibt: „Gefühle zeigen, miteinander lachen, traurig sein, Begeisterung zeigen, Freude ausstrahlen, individuelle Fragen stellen und auch beantworten und, und, und...“

Hinderlich ist da wahrscheinlich, dass Buchhändler das Label „Autobiografische Schilderung von menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen“ mittlerweile auf Vorrat haben. Neuerscheinungen der letzten Zeit waren Camilla im Callcenterland von Michela Murgia, Durch den Telefonhörer gelauscht von Lina Weiß, Hilfe, mein Handy kocht das Hirn weich! von Evony Keschin, Callcenter. Wer dranbleibt, hat verloren von Sebastian Thiel und I CALL YOU!!! von Hans-Peter Trimborn. Ist es da nötig, dass auch Alice M. Krins ihre Leiden in der Telefonzentrale eines Energieunternehmens veröffentlicht unter dem Titel vatts.on läuft vorweg und mit einem Vorwort von Günter Wallraff? „Ja, denn kaum eine andere Technik wird dermaßen missbraucht, dass wir in Lichtgeschwindigkeit zurück ins 19. Jahrhundert katapultiert werden“, findet Krins. „Unsere junge Generation kennt kaum noch eine andere Servicebearbeitung als die durch Call-Center. Sie weiß zum Teil nicht mehr, dass Service etwas mit Respekt gegenüber den Kunden zu tun haben soll.“

Die Anerkennung für die Telefonierer könnte sich zumindest in Deutschland verbessern: Mit 117 Streiktagen, immerhin dem zweitlängsten Arbeitskampf der Bundesrepublik, haben sich die Angestellten des Sparkassen-Call-Centers einen Mindeststundenlohn von 8,50 Euro erstritten. Damit könnte sich auch der Call-Center-Verband anfreunden. Um einen Tarifvertrag aushandeln zu können, trommelt er für die Gründung eines Arbeitgeberverbands: „Die Branche könnte sich zukünftig mehr über Leistung und Qualität definieren und weniger über den Preis. Dies würde insgesamt dem Ruf der Branche nutzen.“

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Studien zur Call-Center-Branche wurden dieses Frühjahr veröffentlicht von der European Confederation of Contact Centre Organisations (eccco.org), dem Call Center Verband Deutschland (callcenter-verband.de) und dem Contact-Center-Network (contact-center-portal.de).
Martin Ebner
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