Krieg gegen den Terror

Es ist Bündnisfall, und keiner darf hin

d'Lëtzebuerger Land vom 04.10.2001

"Y a-t-il besoin d'ajouter que cet engagement donnera au pays attaqué toute garantie émanant des grandes puissances et avant tout des États-Unis d'Amérique, qu'il rassurera les peuples de l'Europe et leur inspirera confiance?", fragte der hauptstädtische Anwalt Fernand Loesch (CSV) am 31. Mai 1949 die Kammer. Er trug im Namen der Zentralsektion den Bericht über den Gesetzentwurf Nummer 266 vor, mit dem das Parlament den zwei Monate zuvor unterzeichneten Nato-Pakt mit 46 gegen fünf Stimmen ratifizieren sollte.

Damals, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des Kalten Kriegs, konnte sich der Abgeordnete nicht vorstellen, dass es gerade die USA sein sollten, die als erste und einzige in 52 Jahren die Solidaritätsklausel des Nato-Paktes beanspruchen sollten. Auch wenn Nato-Generalsekretär Lord Robertson vor zwei Wochen in einem Interview einräumte, dass er der überraschten US-Administration vorgeschlagen hatte, den Bündnisfall laut Artikel fünf des Nato-Vertrags zu beanspruchen.

In seiner Sitzung vom 12. September hatte der Nordatlantische Rat beschlossen, Artikel fünf spielen zu lassen, wenn die USA den Nachweis erbringen könnten, dass die Attentate "von außen gegen die USA gesteuert" gewesen waren. Diese Woche nun erklärte US-Botschafter Frank Taylor dem Nordatlantischen Rat, dass die US-Regierung überzeugt sei, dass die Attentäter einem "weltweiten Terroristennetz" namens Al-Qaida angehörten, worauf der Rat die Anschläge als Aggression von außen ansah und Artikel fünf für angebracht hielt. Auch wenn europäische Teilnehmer der Sitzung an-schließend Pressevertretern zuflüsterten, dass sie im Grunde nichts Neues erfuhren und es weiterhin an stichhaltigen Beweisen fehle, unterschrieben sie den Blankoscheck für einen als langwierig angekündigten Feldzug der US-Armee.

Den zentralen Artikel fünf des Nato-Pakts erklärte Loesch seinerzeit dem Parlament so: "Combinée avec l'article six, la disposition inscrite à l'article cinq prévoit une attaque armée contre l'un ou plusieurs des pays signataires, survenant en Europe ou en Amérique du Nord. Cette attaque peut être dirigée soit contre le territoire de l'un d'eux, contre les départements français d'Algérie, contre les forces d'occupation de l'une quelconque des parties en Europe, contre des îles placées sous la juridiction de l'une des parties dans la région de l'Atlantique Nord ou contre les navires ou aéronefs d'une des parties signataires. Dès qu'une telle attaque se déclenche, elle est considérée immédiatement comme une attaque dirigée contre toutes les parties."

Dies bedeutet, dass seit letztem Dienstag die Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center und das Pentagon sowie die Flugzeugentführung in Pennsylvania auch gegen das Großherzogtum gerichtet waren. Und sich das Land seither irgendwie im Krieg befindet.

Bereits am 11. September war die Armee ausgeschickt worden, um zusammen mit der Polizei den Flughafen, die US-Botschaft und andere amerikanische Einrichtungen zu sichern. Am 19. September tagte erstmals seit Jahren wieder der ständige Sicherheitsausschuss mit Vertretern von Armee, Polizei, Nachrichtendienst und Zivilschutz, um über die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zu beraten. Alles begleitet von der geistig-moralischen Mobilisierung.

Und während ADR-Sprecher Gast Gibéryen in der Trauersitzung des Parlaments am 13. September verlangte, "dass Freiheit ihren Preis und ihre Grenzen hat", zeigte sich LSAP-Präsident Jean Asselborn am Montag schon be-sorgt, dass unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung Freiheiten eingeschränkt werden könnten. In Erinnerung an die "Telefonaffäre" gegen die LSAP-Fraktion fragte er nach der seit Jahren versprochenen Reform zur demokratischeren Kontrolle des Service de renseignements.

Doch der Bündnisfall der Nato wirft noch eine andere Frage auf. Im Gutachten des Staatsrats vom 20. Mai 1949 heißt es: "En ce qui concerne le Grand-Duché de Luxembourg, il semble être hors de doute que le pouvoir législatif devrait intervenir, si jamais l'emploi de la force armée était jugé nécessaire. Car si l'état de guerre peut naître de certaines circonstances et de certains faits, même sans l'intervention de notre volonté, toute déclaration de guerre exigerait l'assentiment du législateur; en effet, lors de la révision constitutionnelle de 1919, les mots 'déclarer la guerre' ont été supprimés dans l'article 37 de la Constitution qui détermine les pouvoirs du Grand-Duc."

Im März 1999 war es bereits zu einem Präzedenzfall gekom-men. Nach der Entscheidung der Nato, die Bundesrepublik Jugoslawien anzugreifen, erklärte Premier Jean-Claude Jun-cker, dass Luxemburg erstmals in seiner Geschichte an der Entscheidung für einen militärischen Einsatz beteiligt gewesen sei, und die Staatssekretärin im Außenministerium Lydie Err meinte, dass Luxemburg einem anderen Land den Krieg erklärt habe, das Großherzogtum sich "via Nato im Krieg mit Jugoslawien" befinde. Dies aber ge-schah unter Missachtung von Artikel 37 der Verfassung, der vorschreibt: "Le Grand-Duc commande la force armée; il déclare la guerre et la cessation de la guerre après y avoir été autorisé par un vote de la Chambre émis dans les conditions de l'article 114, al. 5 de la Constitution", welcher seinerseits wie bei Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit bei einer Drei-Viertel-Präsenz vorschreibt. Das neu geschaffene Verfassungsgericht war da keine Hilfe.

Dabei wurde der Bündnisfall der Nato auf einer völkerrechtlich zweifelhaften Grundlage beschlossen. Denn bisher galten terroristische Anschläge als Verbrechen, die mit juristischen Mitteln geahndet und nicht durch militärische Vergeltungsschläge gerächt gehören. Vielleicht hätte nicht einmal CSV-Außenminister Joseph Bech den Bündnisfall für gegeben gehalten. Er stellte nämlich im Rahmen der parlamentarischen Debatten zur Ratifizierung des Nato-Pakts 1949 fest: "Les signataires sont convenus que par attaque armée il faut entendre une attaque physique menaçant l'existence d'un État, c'est-à-dire une agression caractérisée et intentionnelle, dénotant l'hostilité d'un gouvernement contre un autre gouvernement." Weil die Nato den Bündnisfall auf eine Situation ausgeweitet hat, für die er gar nicht geplant war, kann zudem niemand sagen, wann er beendet sein wird - wer entscheidet wann, dass keine terroristische Bedrohung mehr existiert?

Deshalb ist es verständlich, dass die drei Benelux-Staaten am 12. September ihre Zustimmung zur Erklärung des Bündnisfalls noch einmal ausdrücklich an Bedingungen knüpften, die eigentlich schon im Nato-Pakt stehen. Dies war vor allem als politischer Kompromiss der belgischen Regenbogenkoalition nötig geworden, in der die Linksparteien Terroranschläge nicht mit Kriegshandlungen gleichsetzen wollten und eine Eskalation durch verspätete Kreuzzügler befürchteten. So gab Belgien zu Protokoll, und Luxemburg und die Niederlande schlossen sich an, dass die USA sich mit ihren Partnern absprechen müssen, bevor sie Unterstützung für ihren Feldzug beanspruchen, und jedes Land frei entscheiden kann, in welcher Form es einen Beitrag leisten soll.

Denn wenn auch Premier Jean-Claude Juncker in jedem Interview Präsident George W. Bush für seine besonnne Haltung lobte, dann weil die europäischen Nato-Partner eine Heidenangst hatten und teilweise noch haben, dass die USA nach Rambo-Manier halb Asien zwischen Usbekistan und Pakistan destabilisieren. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass die USA die Gelegenheit nutzen, um unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung endlich ihnen genehme Regime an den Erdölquellen Iraks, Libyens, des Irans und wer weiß wo noch zu etablieren und nach der Schmach vom 11. September "Tausende Soldaten zu opfern, um Saddam Hussein in einem Käfig heim zu bringen und durch die Straßen New Yorks zu führen", wie der Militärexperte Pavel Felguengauer schreibt. Wer wird dann noch von einer europäischen Militärpolitik reden?

Mit der Berufung auf Artikel fünf boten die Nato-Verbündeten den USA zwar ihre Unterstützung an, aber seither warten die meisten ziemlich ratlos, dass sie gerufen werden. "America's 'We'll Call If We Need You' War" spottete die International Herald Tribune am Mittwoch über den Bündnisfall der Nato. Die eher um die Verteidigung des Bankgeheimnisses besorgten Luxemburger Minister wissen jedenfalls nicht, was die USA im sich anbahnenden Ernstfall von ihnen verlangen. Sie weisen darauf hin, dass die Militärlager von Namsa und WSA sowie die in Luxemburg zugelassenen Awacs-Flugzeuge ohne Bündnisfalls schon den USA unterstehen. Für den Fall einer Mobilisierung dieser Reserven ließ sich die US-Armee lediglich am Mittwoch die Benutzung des Luftraums und des Findels vormerken.

Die Minister machen sich auch keine Illusionen über ihr geopolitisches Gewicht: "Die USA werden doch nicht ausgerechnet uns sagen, was sie vorhaben." Bisher machten die USA kaum Anstalten, um überhaupt militärische Unterstützung von ihren Nato-Partnern zu erhalten. Derzeit sind sie lediglich an britischen SAS-Sonderkommandos und nachrichtendienstlichen Informationen aus anderen Staaten interessiert.

Bild am Sonntag berichtete diese Woche aus Berlin, dass die US-Regierung statt deutscher Truppenunterstützung lieber D-Mark haben möchte. Ähnlich führten die USA bereits vor zehn Jahren den zweiten Golfkrieg und schickten anschließend ihren arabischen, europäischen und japanischen Verbündeten die Rechnung. Die Luxemburger Steuerzahler kam der Golfkrieg fast eine Milliarde Franken zu stehen. Doch Premier Juncker meinte am Mittwoch, dass bisher noch nicht über Geld geredet worden sei. 

 

 

Romain Hilgert
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