Was muss ein Museum im 21. Jahrhundert leisten?

Das Museum ohne Wände

d'Lëtzebuerger Land vom 18.05.2018

In den vergangenen 50 Jahren fand ein beständiger Paradigmenwechsel in dem Konzept des „Publikums“ öffentlicher kultureller Einrichtungen statt. Befürwortete und praktizierte man sehr lange, wenn nicht zu lange, eine einseitige Kommunikation mit den Besuchern und einhergehend eine frontale Wissensvermittlung, so schneiden Museen seit einigen Jahren ihr Programm und Vermittlungsformate auf ein Publikum zu, das divers ist und aktiviert werden soll. Der in diesem Sinne fast überstrapazierte Begriff der „Partizipation“ wird aktuell von Termini wie „Co-Creation“ abgelöst, sprich von der gemeinsamen kreativen Gestaltung, welche, anders als die Partizipation, keine hierarchische Struktur zwischen dem Museum und dem Publikum implizieren soll. Die öffentlichen kulturellen Institutionen geraten zudem zunehmend unter den Druck immer tiefer sich in die Gesellschaft einschreibender Brüche. Gesellschaftliche Division läuft der Diversität den Rang ab, und die Frage nach der sozialen Rolle und Verantwortung öffentlicher Museen wird dringlicher. Denn was muss ein Museum im 21. Jahrhundert leisten? Ist das Museum der Gesellschaft verpflichtet; wie kann es die Menschen noch stärker erreichen?

Insbesondere in den 1970er Jahren wurde der Wunsch nach einer Kultur für alle laut. Denker wie Pierre Bourdieu hoben die soziale Funktion des Museums hervor und kritisierten seinen hegemonischen Diskurs. Bourdieu definierte das „kulturelle Kapital“ als ein wichtiger Baustein in der Entstehung von sozialer Ungerechtigkeit. Museen beförderten laut ihm die Privilegierten, indem sie Kunst so präsentierten, dass nur Menschen die über eine gewisse Bildung verfügen den Inhalt entschlüsseln und Kunst verstehen könnten. Auch wenn kulturelle Institutionen sich heute als Plattform, als Ort des Zusammenkommens und der Diskussion definieren, bestehen weiterhin physische Barrieren und symbolische Ausschlussprozesse, die eine Inklusion unmöglich machen. Milene Chiovatto, Leiterin der Bildungsabteilung der Pinacoteca do Estado de São Paulo bringt es kritisch auf den Punkt: „Wenn man nicht aktiv daran arbeitet, Barrieren für Zugänge abzubauen, dann unterstützt man sie. Neutralität gibt es nicht.“ Kulturelle Institutionen haben also die Pflicht, diese Zugänge zu ermöglichen und zu erweitern, Kunst an unterschiedliche Besuchergruppen zu vermitteln und in die Programmgestaltung selbst Vertreter dieser Zielgruppen einzubeziehen.

Der Paradigmenwechsel in der Konzeption des Publikums geht mit einem Wandel in der Gesellschaft selbst einher. Digitale Medien und ihre weltweite Vernetzung erleichtern nicht nur den Zugang zu Wissen, sondern erlauben auch, auf ein viel breiteres Wissen als je zuvor zuzugreifen. Aber auch künstliche und selbstlernende Intelligenz, automatisiertes Sammeln und Auswerten von Daten bis hin zum Robo Advise und Pervasive Computing bestimmen immer mehr die Art und Weise, wie wir Dinge auffassen und verarbeiten. Der US-amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin, der Ende 2016 einen Plan für die dritte industrielle Revolution in Luxemburg vorgelegt hat, prägte schon im Jahr 2000 den Begriff der „Zugangsgesellschaft“. Das digitale Zeitalter hat durch seine Zugangsmöglichkeiten neue Wirtschaftsmodelle eingeleitet, bei denen der private Besitz nicht mehr wichtig ist. Neben den bekannteren Modellen der Sharing Economy, wie Airbnb oder Uber, etablierten sich in den letzten Jahren alternative Formen des Teilens, wie die Repair Cafés, die Fablabs, die Community Gardens oder die Tauschbörsen, die auf den gemeinschaftliche Nutzen von Ressourcen und das Teilen von Wissen angelegt sind. Gerade die jüngere Generation der Millennials oder der Creativteens bevorzugen die Sharing-Modelle und wollen die Welt mitgestalten. Wie zu lange kamen Fragen wie, wo werde ich gestaltet, wo kann ich gestalten? zu kurz.

Auch Museen reagieren auf diese neue Generation von Besuchern. Unter dem Titel Arte Util haben die Künstlerin Tania Bruguera und Kuratoren des Queens Museum in New York, des Van Abbemuseum in Eindhoven und von Grizedale Arts in Coniston ein Programm initiiert, das Kunst als sozial relevant anerkennt. Projekte, die unter dem Label Arte Util starten, folgen Rahmenbedingungen wie: Der Begriff „Autor“ soll mit „Initiator“ ersetzt werden, „Besucher“ mit „User“, und das Projekt soll einen praktischen und nützlichen Output für die „User“ haben. Diese Auffassung von Kunst und vom Museum geht weit über das weitverbreitete l‘art pour l‘art -Prinzip und die pure ästhetische Betrachtung hinaus. Die Ausstellung im klassischen Sinne wird zum Vorteil der öffentlichen Programme und der Rolle der Communities in den Hintergrund gedrängt. Im Rahmen des Museum of aarte util oder des Museum 3.0 wurde ebenfalls ein „Lexicon of usership“ geschaffen, das die museale Sprache in die der digitalen Welt übersetzt (http://museumarteutil.net/wp-content/uploads/2013/12/Toward-a-lexicon-of-usership.pdf).

Solche Projekte gestalten sich als essentiell, um das alteingesessene Modell des Museums als White Cube aufzubrechen. Tatsächlich wurde der White Cube als neutraler Raum erfunden, um das Auratische und Autonome der Kunst hervorzuheben; Kunstwerke wurden aber im gleichen Zuge von ihrem Ursprungsumfeld entfernt. Das Museum in seiner kontemplativen Auffassung hat dazu beigetragen, dass viele Menschen Kunst als vom Leben abgetrennt wahrnehmen. Es hat ebenfalls den Blick auf Kunst geformt und genormt – ein Blick, den es heute wieder auf die Probe zu stellen gilt. In der Neuerfindung des Museums im 21. Jahrhundert dienen oftmals künstlerische Praktiken und Projekte als Ideengeber, so z.B. das Center for the less good idea von William Kentridge in Johannesburg, die Colonie von Kader Attia in Paris oder die Bandjoun-Station von Barthélémy Toguo. Letzterer verfolgt mit seinem Ausstellungort im Kamerun die Idee der Kollaboration, insbesondere der Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung. So wird dort Kaffee kultiviert, oder auch Hochzeiten gefeiert und Fußballspiele ausgestrahlt – also Aktivitäten, die in westlichen Museen höchstens im Rahmen einer kommerziellen Vermietung oder künstlerischen Aktion vorstellbar sind.

Dennoch erhalten auch alternative Modelle immer mehr Einzug in europäische Museen, die nicht nur das Sehen des Publikums schulen, sondern auch seine Kreativität fördern sollen. Ein weiterer wichtiger Faktor in Konzeption von Publikum durch öffentliche Kulturinstitutionen ist die Reichweite. Als Einrichtungen die über öffentliche Gelder finanziert werden, obliegt den Museen die Verantwortung Programme für alle Bürger*innen zu gestalten. Da in vielen Ländern Europas eine massive Abwanderung aus der Region hin in große Städte herrscht, entsteht ein grösser werdendes Pflichtgefühl, sich mehr im ländlichen Raum, der oft strukturell benachteiligt wird, zu engagieren. Museen und kulturelle Einrichtungen sehen die Notwendigkeit einer Dezentralisierung ihrer Sammlungen und Programme.

Mobile Kultureinrichtungen waren schon Anfang der 1930er Jahre in der Sowjetunion im Einsatz, so der Mobile Laboratory Van oder der Agitprop-Truck. Diese Lastwagen waren multifunktional, dienten als Bühne, Radio, Bibliothek oder Kino und konnten an entlegene Orte fahren. Natürlich waren diese Mobile ideologisch gedacht und sollten die Vorstellungen des Staates in abgelegene Regionen bringen, um eine breitere Masse, insbesondere jene Menschen die nicht ins Museum kommen, zu erreichen. Das „Museum ohne Wände“ wurde 20 Jahre später auch durch André Malraux und sein Musée imaginaire geprägt, das die Fotografie als Mittel ansah, einer größeren Masse Reproduktionen von Kunstwerken zugänglich zu machen.

Zeitgenössische Äquivalente zu den Trucks aus der Sowjetunion finden sich heute in Museen wie dem Museum oft he History of Polish Jews, dem Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya in Mumbai („Citi-CSMVS Museum on Wheels“), dem Lacma, dem Walker Art Center („Walker on Wheels“) oder dem Museo Tamayo. Nicht nur mobile Einrichtungen, sondern auch Filialen wurden in den letzten Jahren von großen Häusern ins Leben gerufen, um ihre Sammlungen den Bürger*innen dezentral zur Verfügung zu stellen. Das „Centre Pompidou Mobil“ besuchte so zwischen 2011 und 2013 in Form eines Museumzeltes die Städte Chaumont, Cambrai, Boulogne-sur-Mer, Aubagne und Libourne. Die Tate und die National Galleries of Scotland führen seit 2008 das Programm „Artists Rooms“, eine Sammlung von Anthony d’Offay die als Künstlerräume in Partnermuseen und Institutionen in ganz Großbritannien gezeigt wird. Auch die Pinakotheken in München verfügen über ein Filiale-System, das erlaubt, in Schlösser und Burgen in ganz Bayern ihre Sammlungen zu zeigen.

Jenseits des dezentralen Engagements in der ländlichen Region, sehen Museen und Kulturschaffende heute zudem die Notwendigkeit, stärker mit der lokalen Stadtgesellschaft zu arbeiten. Gerade durch die Konzentration wandeln sich Städte zu Kristallisationspunkte globaler Probleme, und unterschiedliche Sichtweisen und Stile prallen aufeinander. Kunst kann hier als Brückenbauer oder Katalysator fungieren. Für seine Arbeit Bremer Befragung. Sine Somno Nihil zum Beispiel befragte der Künstler Jochen Gerz, mithilfe von 50 000 verschickten Fragebögen und einzelnen Gesprächen, die Stadtgesellschaft zu den ihr wichtigen Charakteristiken von Kunst im öffentlichen Stadtraum. Der Prozess dauerte insgesamt fünf Jahre (1991 bis 1995); um die 250 Personen haben geantwortet und mit dem Künstler über die finale Form des Kunstwerkes diskutiert und wurden als Ko-Autoren namentlich auf einer Stahlplatte an Flussufer eingeschrieben. Auch wenn diese Platte das finale Werk symbolisiert, war die eigentliche Kunst die Diskussion um die Arbeit herum. Jochen Gerz hat so seinen Auftrag, ein Werk im öffentlichen Raum zu schaffen an die Bevölkerung zurückgegeben.

Der Gedanke, des Zurückgebens der Verantwortung an die Bevölkerung, des Empowerments steht im Fokus von sogenannten Outreach-Projekten. Der Stadtraum gestaltet sich als öffentlicher Verhandlungsort; Kunst kann hier helfen, einen Rahmen für diesen Handlungsraum zu schaffen. Problematiken wie die ökonomische Privatisierung des Stadtraums stehen als Diskussionsthema an erster Stelle. Die Initiative von Park Fiction in Hamburg beispielwiese zählt zu den gelungensten Bestrebungen der Bevölkerung, unterstützt durch Künstler und Kulturschaffende, für ihr Recht auf Stadt. Seit 1994 setzten sich die Bewohner für einen Park und gegen eine Bebauung im klassischen Sinne vom Elbhang ein. Die Bewegung setzte sich nicht nur aus Protestaktionen zusammen, sondern hatte einen performativen Charakter mit Grillbattles, einem Container mit einer Gartenbibliothek, Vorträgen und Gesprächen mit Nachbarn und der Zivilgesellschaft. 1997 konnte der Park durchgesetzt werden, 2005 wurde er eröffnet. Kultureinrichtungen wie das Jüdische Museum in Berlin, das seit 2007 eine Abteilung für Projekte in der Stadtgesellschaft besitzt, oder das Historische Museum in Frankfurt („stadtlabor unterwegs“) praktizieren seit einigen Jahre Museum-Outreach. Diese Projekte sind oft transdisziplinär angelegt, verschränken Architektur, Design und Bildende Kunst. Unterschiedlichste Partner sollen in einem öffentlichen Setting zusammenkommen und über Themen debattieren, wobei der Diskurs nie als abgeschlossene Form betrachtet werden kann.

Solche Initiativen bergen aber auch immer die Gefahr der Gentrifizierung von Stadtteilen oder im Gegenteil der Enttäuschung der beteiligten Gruppen, wenn Projekte nicht nachhaltig angelegt werden können. Nicht selten werden tatsächlich solch nachhaltige Programme auf bürokratischer Ebene verhindert. Denn auch wenn kulturelle Einrichtungen soziale Probleme nicht lösen können, können sie Empowerment beim Publikum oder beim „User“ fördern und somit eine kritische Infragestellung der Gestaltung des Menschen durch politische und ökonomische Begebenheiten.

Florence Thurmes
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