Einkünfte

Das siebte Dezil

d'Lëtzebuerger Land vom 10.04.2004

Armut ist inzwischen ein beliebtes Studienobjekt. Auch wenn sich die Soziologie mehr als die Wirtschaftswissenschaften dafür interessiert. Doch weil eine gesellschaftliche und politische Idylle weniger durch Armut als durch Reichtum gefährdet ist – welcher bekanntlich Neid und Zwietracht sät – ist der Reichtum bis heute kaum ein Studienobjekt. Einen vorsichtigen Analyseversuch machte soeben das Differdinger Ceps mit Hilfe seiner Um­fragen­serien bei ausgewählten Haushalten. Obwohl sich herumgesprochen haben dürfte, dass reiche Haushalte seltener zu Meinungsumfragen bereit sind und vor allem ihre Vermögensverhältnisse zu bescheiden angeben.

Doch anders als bei der Armutsgrenze, die inzwischen meist bei der Hälfte des mittleren Einkommens angesiedelt wird, gibt es keine allgemein akzeptierte Reichtumsgrenze. Würde man sie, analog zur Armutsgrenze, auf 150 Prozent des mittleren Einkommens festsetzen, käme man bei den Befragten auf 44 520 Euro Jahreseinkommen. Die Forschungseinrichtung zieht es aber vor, als Reiche die zehn Prozent Bezieher der höchsten Einkommen anzusehen, so dass ihre Reichtumsgrenze bei 56 280 Euro liegt.Die kumulierte Häufigkeitsverteilung der Einkommen zeigt, dass die zehn Prozent Reichsten im Land ein Viertel aller Bruttoeinkommen beziehen, darunter die Hälfte aller Vermögens­einkünfte. Die zehn Prozent Ärmsten verfügen dagegen über drei Prozent aller Brutto- und ein Prozent aller Vermögenseinkünfte. 

Natürlich legen solche Zahlen gleich die Frage nahe, wie gerecht die Luxemburger Gesellschaft ist, wobei dann als gerecht eine irgendwie gleichmäßige Einkommensverteilung empfunden wird. Es ist sicher, dass es hoch entwickelte Industriestaaten gibt, in denen die Einkommensunterschiede größer sind als hierzulande, auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben. Es fällt aber auch auf, dass die zehn Prozent Reichsten mit 25 Prozent aller Brutto- 23 Prozent aller Nettoeinkünfte  bezogen, so dass die Umverteilungswirkung des für verschiedene Steuerarten progressiven Steuersystems im Endergebnis geringer ist, als die Einkommenssteuertabelle vermuten lässt. Andererseits liegt für die zehn Prozent Ärmsten der Anteil an allen Nettoeinkünften nur einen Prozentpunkt höher als der Anteil an allen Bruttoeinkünften.

Hält man eine gleichmäßige Einkommensverteilung für den Ausdruck einer gerechten Gesellschaft, dann gibt es diese sogar – aber nur im siebten Einkommensdezil. Denn jene zehn Prozent der Haushalte auf der siebten Sprosse der Einkommensleiter beziehen genau zehn Prozent aller Einkommen aus Arbeit und verfügen über zehn Prozent aller Bruttoeinkommen. Sie müssen auch genau zehn Prozent aller Steuer- und Sozialabgaben leisten und kommen am Ende auf elf Prozent aller Nettoeinkommen.

Das siebte Dezil, das weder zu wenig verdient, noch zu viel besteuert wird, ist die obere Mittelschicht. Es sind, keineswegs zufällig, jene Beamten, Angestellten und Selbstständigen, von denen viele dank ihrer Luxemburger Staatsbürgerschaft wahlberechtigt sind und die ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen erfolgreich Gehör zu verschaffen wissen. Sie stellen deshalb die am herzlichsten umworbene Wählerbasis der zu Regierungskoalitionen fähigen Parteien von rechts bis links dar. Vielleicht sind die Volksparteien in Wirklichkeit sogar Siebte-Dezil-Parteien. 

Romain Hilgert
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