Reform der Sozialhilfe

Zwischen Willkür und Recht

d'Lëtzebuerger Land du 24.01.2008

Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV), um die es sehr ruhig geworden ist in letzter Zeit, beansprucht doch noch eine Jahrhundertreform, mindestens wie das das Einheitsstatut: der Gesetzentwurf über die Organisation der Sozialhilfe, den sie amDienstag im Parlament deponierte. Wobei sich der Begriff „Jahrhhundertreform“ zuerst wörtlich nehmen lässt: Das neue Gesetz soll nämlich das Gesetz vom 28. Mai, über den Hilfswohnsitz und den Königlich Großherzogliche[ n] Beschluß vom 11. Dezember1846, Nr. 2442, über die Wiedereinrichtung und das Reglement der Wohlthätigkeits-Büreaux ersetzen.

Die derzeitige rechtliche Grundlage der Sozialhilfe und der kommunalen Sozialämter stammt also noch aus der Zeit des liberalen Notabelnstaats der industriellen Revolution. Es war die Zeit des freien Fuchses im freien Hühnestall, und Sozialhilfe sollte bestenfalls eine Hand voll Körner sein. Den einzigen Versuch im Jahrhundert des Sozialstaats, im 20. Jahrhundert, die Sozialämter zu reformieren,stellt ein Gesetzwurf aus dem Jahr 1938 dar, das aber nicht mehr vor dem deutschen Überfall Gesetzeskraft erhielt.

Bis zur großen Krise Mitte der Siebzigerjahre wurde die Existenz von Armut und Arbeitslosigkeit im Wirtschaftswunderlandbeharrlich geleugnet, und als danach der Staat gezwungen war, die Sozialgesetzgebung auszubauen, etwa durch die Schaffung des garantierten Mindesteinkommens RMG, schienen mancheGemeindepolitiker ganz gut mit der Willkür und dem Paternalismusihres Aarmebiro leben zu können. Diese hat unter anderem zur Folge, dass die Bedürftigen dank der Gemeindeautonomie nicht gleich vor dem Gesetz sind, sondern, je nach Wohngemeinde, sehr unterschiedlich geholfen bekommen – und die Großzügigkeit der Hilfe nicht unbedingt im Zusammenhang mit der Größe der Gemeinde oder der politischen Couleur der jeweiligen Gemeindeführung steht. Dabei ist die Sozialhilfe auf Gemeindeebene manchmal die letzte Rettung, wenn alle sozialstaatlichen Stricke reißen, und erlaubt oft den engsten Kontaktmit den Bedürftigen.

Der nun vorliegende Gesetzentwurf räumt zum Teil mit der aus dem19. Jahrhundert stammenden Willkür auf, weil er verschiedene Rechte schafft und die Vereinheitlichung der kommunalen Sozialämter vorantreibt. Das Gesetz soll „ein Recht auf Sozialhilfe“ zur medizinischen Versorgung, Wohnung, Ernährung, Kleidung, Mobilität, Wasser- und Energieversorgung schaffen, die beimSozialamt derWohngemeinde beantragt werden kann und gegen dessen Entscheidung Einspruch beim Schiedsrat und dem Obersten Rat der Sozialversicherungen eingelegt werden kann. Wie ein Sozialamt beispielsweise das Recht auf Wohnen gewährleisten kann, bleibt ihm aber selbst überlassen.

Allerdings soll die Sozialhilfe nur ergänzend zu anderen Leistungen, wie dem RMG, gewährt werden, welche die Antragsteller zuerst erschöpft haben müssen. Deshalb überlässt der Gesetzentwurf die Art und Höhe der Sozialhilfe zugunsten jedes Antragstellers dem Ermessen der Sozialämter, so dass das im Gesetzentwurf proklamierte Recht ziemlich abstrakt bleibt. 

Vorgesehen ist auch das Recht auf eine Mindestversorgung mit Trinkwasser, elektrischem Strom und Brennstoff, damit niemand, der seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, plötzlich im Kalten und Finstern sitzen muss. Künftig sollen die Sozialämter bei Bedürftigen, welche die Bedingungen des Gesetzes erfüllen, dieKosten übernehmen, wenn die Lieferfirmen den Hahn zudrehen undden Stecker herausziehen wollen. Im Zuge der grassierenden Unsitte, die Beziehungen zwischen öffentlicher Hand und dem einzelnen Bürger zu einer vertraglich geregelten privaten Geschäftsbeziehung zu machen, können die Sozialämter als Gegenstück zu dem Recht auf Sozialleistung die Antragsteller zwingen, einen „Solidaritätsvertrag“ abzuschließen, in dem sich der Antragsteller zu verschiedenen Schritten verpflichtet, die ihn unabhängig vom weiteren Bezug von Sozialhilfe machen sollen. Ob der Antragsteller, der die vertraglichen Abmachungen nicht einhalten kann oder will, sein Recht auf Sozialhilfe verwirkt, lässt der Gesetzentwurf allerdings offen.

Genau wie es den Sozialämtern offen steht, sich Sozialhilfe zurückerstatten zu lassen, wenn die Bezieher vermögendwerden oder durch einen Irrtum des Amts zu viel Geld erhielten.Damit die Bedürftigen, unabhängig davon, ob sie in einer Stadt oder einer kleinen Landgemeinde wohnen, etwas gleicher behandelt werden, soll das Gesetz jede Gemeinde mit mehr als 10 000 Einwohnern zwingen, ein Sozialamt als privatrechtlich geführte öffentliche Einrichtung zu unterhalten, die der Staat zur Hälftebezuschusst. Kleinere Gemeinden müssen Sozialämter im Verbund betreiben; die den Gemeinden entstehenden Kosten müssen sie dann entsprechend ihrer Einwohnerzahl teilen. Jedes von einem eigenständigen Verwaltungsrat geleitete Sozialamtmuss mindestens einen Sozialarbeiter vollzeit beschäftigen, der als erstes eine Sozial-Enquête über jeden Anstragsteller durchführt.

Romain Hilgert
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