Innenpolitische Bedeutung des Referendums

Die Kette ist ab

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2005

Befürworter von Referenden, deren militantesten Vertreter sowohl unter ökoalternativen wie rechtspopulistischen Aktivisten zu finden sind, stellen Volksbefragungen als die demokratischste, weil direkteste Form der politischen Entscheidungsfindung dar. Dabei wird gerne übersehen, dass das nur teilweise zutrifft. Einer der Vorzüge des Luxemburger Wahlrechts ist nämlich das ausgeprägte Verhältniswahlrecht, das sicherstellt, dass entsprechend ihrer Stimmenzahl auch minoritäre Standpunkte in Parlament und Proporzgemeinden vertreten sind und sich dort Gehör verschaffen können. Das Referendum, wie es auch am Sonntag stattfindet, ist dagegen ungehemmtes Mehrheitswahlrecht: Wenn 51 Prozent der Wähler Ja sagen, bleibt der Standpunkt von 49 Prozent der Wähler unberücksichtigt. So als ob bei Parlamentswahlen die CSV als stärkste Partei 60 Sitze bekäme und all die anderen leer ausgingen. Raum, um die unterschiedlichen Standpunkte zu verhandeln oder gar in einem Kompromiss  zu berücksichtigen, bleibt nicht. Die Folgen des Referendums erscheinen um so "ungerechter", je ausgeglichener das Kräfteverhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern ist. Das letzte Referendum hierzulande wurde 1937 mit 50,67 gegen 49,33 Prozent der Stimmen entschieden. Auch wenn das Ergebnis in einer historischen Perspektive inzwischen unangefochten als "richtig" angesehen wird, kann der Ausschlag gebende Unterschied von weniger als 2 000 Stimmen am Ende das Ergebnis einer Reihe von Zufällen gewesen sein. Laut den innerhalb der gesetzlich erlaubten Frist, also bis einen Monat vor dem Wahlgang, veröffentlichten Meinungsumfragen dürften am Sonntag etwa die Hälfte der Wähler den Verfassungsvertrag gutheißen und etwa die Hälfte ihn ablehnen. So dass durch das absolute Mehrheitswahlrecht der Wahlausgang wieder ziemlich "ungerecht" erscheinen kann. Diese Auswirkung wird aber noch durch eine Eigenart  verstärkt, die es bei den Referenden von 1919 und 1937 so nicht gab. Denn wenn am Sonntag in der langen Tradition der repräsentativen Demokratie ein seltener Akt der direkten Demokratie stattfindet, wird der stets existierende, aber weniger sichtbare Widerspruch so offensichtlich wie noch nie. Während fast 50 Prozent der Wähler gegen den Verfassungsvertrag sind, ratifizierten ihn am 28. Juni 100 Prozent der Deputierten in der Abgeordnetenkammer. Der Vertrag war von 55 der 55 anwesenden Abgeordneten einstimmig in erster Lesung gutgeheißen worden. Selbst das ADR, das es sich selten nehmen lässt, lautstark zu artikulieren, was es für die Meinung der schweigenden Mehrheit hält, traute sich nicht, gegen den Vertrag zu stimmen. Weshalb seine fünf Abgeordneten, nach dem Vorbild der LSAP bei der "Indexmanipulation" am 5. April 1982, lieber das Plenum verließen und durch ihre  Saalflucht erst das einstimmige Votum ermöglichten. Die gewählten Volksvertreter stehen also geschlossen im Widerspruch zur Hälfte des wählenden Volks. Der Akt direkter Demokratie am Sonntag dürfte zeigen, dass der politische Standpunkt jedes zweiten Wahlberechtigten in der repräsentativen Demokratie gar nicht repräsentiert wird. Die politisch organisierten Kritiker und Gegner des Verfassungsvertrags, ADR, KPL und déi Lénk, kamen bei den letzten Wahlen und den rezenten Meinungsumfragen der ILReS für das Tageblatt auf etwa 13 Prozent der Stimmen, sie repräsentieren also lediglich ein Viertel aller Wähler, die den Vertrag ablehnen können. Davon ist lediglich das ADR im Parlament vertreten. Die große Mehrheit der Nein-Sager am Sonntag sind also treue LSAP- und DP-Wähler sowie, laut Meinungsumfragen in etwas geringerem Um¬fang, CSV- und Grünen-Wähler. Nur dass ihre Parteien als solche, beziehungsweise ihre Parteileitungen geschlossen für den Verfassungsvertrag sind. Wie der Riss durch die Parteien geht, zeigt der Protestbrief von LSAP-Präsident Alex Bodry an die Sozialistische Partei Frankreichs gegen den Auftritt des Verfassungsgegners Henri Emmanueli in Luxemburg. Der Brief, der angesichts der politischen Handlungsunfähigkeit der Sozialistischen Partei in Frankreich wohl nur die eigenen LSAP-Mitglieder einschüchtern sollte, hat inzwischen zu Parteiaustritten und Beschimpfungen wie "national-socialiste" unter Genossen geführt. In welchem Umfang eine Hälfte der Wähler politisch verwaist ist, zeigt sich auch darin, dass nicht nur die Parteien und Parteizeitungen, sondern auch die Gewerkschaften und Berufsverbände sich fast ausnahmslos für den Vertrag ausgesprochen haben, keine sich zur Zivilgesellschaft zählende Nicht-Regierungsorganisation sich zu den  Nein-Sagern bekannt hat. Dabei geht der Riss immer zuerst horizontal durch die Parteien und Gewerkschaften und trennt jedesmal die Partei- und Gewerkschaftsleitungen von einem größeren Teil der Mitglieder. Anders als bei den Referenden von 1919 und 1937 – und den Kampagnen im Ausland – ist der Widerstand gegen den Verfassungsvertrag weitgehend anonym, er hat keine wichtigen Parteien, keine  prominenten Mandatsträger als Fürsprecher. Der einflussreichste bekennende Verfassungsgegner hierzulande ist der Präsident des Landesverbands der Eisenbahner, Nico Wennmacher, aber seine öffentlichen Stellungnahmen gibt auch er eher in persönlichem Namen als im Namen seiner Gewerkschaft ab. Das rechte ADR, das in den letzten Monaten vom Befürworter zum Gegner wurde, überließ dem linken Comité pour le Non das Feld. Seine Abgeordneten, die nicht an der Abstimmung über den Verfassungsvertrag im Parlament teilgenommen haben, hielten sich in der Kampagne merkwürdig zurück. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass die diese Woche an alle Haushalte verteilte Wahlkampfnummer ihrer Zeitung De Pefferkär sogar völlig auf die sonst üblichen Fotos der ADR-Politiker verzichtet, so als ob sie sich doch nicht neben ihren Artikeln abgebildet sehen wollten. Unabhängig vom Ausgang des Referendums am Sonntag wird also am Montag eine merkwürdige Situation herrschen: Wird der Verfassungsvertrag mehrheitlich abgelehnt, kommt es zu einer Regierungskrise, weil das Volk eine Politik beschlossen hat, die die Politiker nicht durchführen wollen. Wird der Verfassungsvertrag dagegen mehrheitlich angenommen, hat jeder zweite Wähler einen politischen Standpunkt geäußert, den in den dafür vorgesehenen Institutionen niemand so richtig repräsentieren will. In der repräsentativen Demokratie, wo die Parteien und die gewählten Volksvertreter die unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft bündeln und repräsentieren sollen, droht ab Montag für die Hälfte der Wähler diese Transmission in einem politisch entscheidenden Punkt nicht mehr funktionieren – wie bei einem Fahrrad, dessen Kette vom Zahnrad gerutscht und dessen Kraftübertragung dadurch unterbrochen ist. Die Wiederherstellung der Vermittlung in der repräsentativen Demokratie wird aber dadurch nicht einfacher, dass die Regierung und die Parteien beziehungsweise die Parteiführungen die Ablehnung des Verfassungsvertrags nie als politischen Standpunkt akzeptierten. Andernfalls wären sie Gefahr gelaufen, ihren eigenen Standpunkt relativiert oder gar in Frage gestellt zu sehen. Deshalb  stellen sie die Ablehnung des Verfassungsvertrags lediglich als irrationalen Akt, als Ausdruck von Ängsten, Mangel an Information oder Ergebnis manipulativer Propaganda angesichts einer zu komplexen Fragestellung dar. Dies schafft aber neue Widersprüche. Denn zum einen ist es prinzipiell delikat, der Hälfte der Wähler einen Irrtum vorzuwerfen. Schließlich ist es dann nach den Gesetzen der Logik äußert schwierig herauszufinden, welche Hälfte der Wähler sich beispielsweise vor einem Jahr bei den Parlamentswahlen geirrt hatte. Zum  anderen stellt sich die Frage,  was die Hälfte der Wähler davon hält, dass  ihr politischer Standpunkt nicht in die Politik der nächsten Monate und Jahre einfließt, sondern sie lediglich als verirrte Schafe  angesehen und von gütigen Hirten wieder eingefangen und zum Schweigen gebracht werden sollen. Darauf angesprochen meinte Premier Jean-Claude Juncker am Montag, dass es immer bei Referenden ein Auseinanderklaffen zwischen realem und legalem Land gebe. Er respektiere die Leute, die nein stimmen, aber halte ihre Meinung für falsch. Die Debatte müsse auch weitergehen, wenn einen Mehrheit der Wähler mit Ja gestimmt hätte. Man müsse zuhören, ins Gespräch kommen und weiter um Zustimmung für Europa bei den Leuten kämpfen, die mit Nein  gestimmt haben. Keineswegs seien die Verfassungsgegner aber abgeschrieben. Denn man könne nicht beinahe die Hälfte des Volks abschreiben, wenn es um die Zukunft des Volks gehe. Aber Jean-Claude Juncker war auch der erste, der seinen Rücktritt für den Fall ankündigte, dass die Verfassungsgegner in der Mehrzahl wären.

Romain Hilgert
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