Türkische Justiz klagt Gezi-Protestler an

Ein Racheakt

d'Lëtzebuerger Land du 15.03.2019

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist ein geduldiger Mensch. Nein, er zeigt keine Geduld, wenn er kritisiert wird. Er hat aber einen langen Atem, wenn es um seine politischen Ziele geht. Ebenso ist er ein nachtragender Mensch. Auch da ist er geduldig. Weggefährte, die ihm in den Rücken fielen, sind nicht die einzigen Opfer seiner Rache. Er nimmt auch seine politischen Gegner früher oder später ins Visier, die ihn in ernste Schwierigkeiten bringen.

Die Polizisten und Juristen, die vor sechs Jahren gegen ihm und vier seiner Minister schwere Korruptionsvorwürfe erhoben; die Putschisten, die glaubten, seine Regierung stürzen zu können; aber auch der charismatische kurdische Chef der linken Demokratischen Partei der Völker, Selahattin Demirtas, der öffentlich zu sagen wagte, er werde Erdogans Präsidentschaft verhindern – sie alle tigern heute in ihren Zehn-Quadratmeter-Zellen herum.

Nun sind offenbar die Millionen Menschen dran, die im Juni 2013 mehrere Wochen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul gegen Erdogans Regierung protestierten und nicht einmal vor brutalen Polizeieinsätzen kapitulierten. Seit Ende Februar stehen 16 linksliberale Unternehmer, Künstler und Aktivisten vor Gericht, weil sie angeblich diesen friedlichen Aufstand generalstabsmäßig organisiert hätten. Der Staatsanwalt fordert für den bekanntesten Häftling, den Unternehmer Osman Kavala, und den restlichen Angeklagten die Höchststrafe. Wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, sollen sie für den Rest ihres Lebens eingesperrt werden, weil sie angeblich in Zusammenarbeit mit dem ungarischen Unternehmer George Soros und dem serbischen Aktivisten Ivan Markowitsch beabsichtigt hätten, die Regierung Erdogans zu stürzen.

Es geht um die Gezi-Proteste von 2013. In den Monaten vor diesem Aufstand hatten Erdogan und seine Regierung den Druck auf der Gesellschaft erhöht, in dem sie Debatten über die Lebensweise der türkischen Gesellschaft provozierten. Alkoholkonsum wurde kriminalisiert, die moderne Kleidung der Frauen für unmoralisch befunden und Erdogan höchstpersönlich kritisierte, dass junge Männer und Frauen in Wohngemeinschaften zusammenlebten. „Wer möchte schon, dass seine Tochter auf den Schoß irgendwelcher Männer sitzt“, sagte er damals in einem Zeitungsinterview. Er spannte den Bogen zu weit.

Ende Mai 2013 entlud sich die Frust, als es bekannt wurde, wie die Polizei eine friedliche Mahnwache von Umweltaktivisten mit Gewalt auflöste. Sie hatten versucht die Vernichtung eines Parks zu verhindern und zelteten dafür im Park. Polizeibeamte prügelten auf sie ein, nahmen sie in Gewahrsam und brannten ihre Zelte nieder. Innerhalb weniger Stunden strömten zehntausende Menschen, zumeist Jugendliche, zum Taksim-Platz, in direkter Nachbarschaft zum Gezi-Park. In den folgenden Tagen gingen nicht nur in Istanbul, sondern im gesamten Land Millionen von Menschen auf die Straße. Die Polizei setzte Pfeffergas, Wasserwerfer, Gummimunition und schließlich in einigen Fällen auch Schusswaffen ein. 15 Menschen starben, 36 Menschen verloren ihre Augen, weil Polizisten mit Pistolen, Gummigeschossen und Gasgranaten unmittelbar auf die Demonstranten zielten.

Erdogan hatte dieser Hälfte der türkischen Gesellschaft, die ihm damals Widerstand leistete, nie verziehen. Oft sprach er davon, auch sie eines Tages für ihren Ungehorsam zu bestrafen. Offensichtlich stehen jetzt die 16 Angeklagten symbolisch auch für den Rest der Demonstranten ein. Aber Erklärungen der Staatsanwaltschaft lassen befürchten, weitere Verhaftungswellen könnten folgen.

Die Anklageschrift kam nicht überraschend. Osman Kavala, der ein Firmenimperium von seinem Vater übernahm und schon immer ein Dorn in den Augen Erdogans war, weil er linksliberale, sozialistische und Menschenrechtsaktivisten unterstützt, war seit über 500 Tagen in Untersuchungshaft. Das „Werk“ der Staatsanwaltschaft, das 657 Seiten umfasst, ist wie bei den anderen politischen Schauprozessen der vergangenen Jahre in der Türkei eine juristische Katastrophe. Kein einziger handfester Beweis wird aufgeführt. Alles beruht auf Mutmaßungen. Ein Angeklagter sei zum gleichen Zeitpunkt wie der Serbe Markowitsch in Ägypten gewesen. Osman Kavala habe einen anderen Angeklagten zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, damit er die Proteste analysiert. Diese und weitere Belanglosigkeiten füllen die sonst nichtssagende Klageschrift. Kavalas Verein Anadolu Kültür, mit dem die Europäische Union und die deutsche Entwicklungsagentur GIZ seit Jahren zusammenarbeiten, wird verdächtigt, während der Gezi-Proteste die Demonstranten finanziert zu haben.

Kurz bevor die Klage erhoben wurde und nachdem er bereits 15 Monate in Haft war, ließ Kavala mittels seiner Anwälte erklären, dass die Staatsanwaltschaft ihn noch nicht einmal vernommen habe. Auch das Gericht hatte sich bisher gegen alle juristischen Regeln verhalten. Es ließ den Prozess zu, ohne zu wissen, was den Angeklagten vorgeworfen wird. Denn die Anklage war bis dahin noch nicht fertig. Diese massiven Rechtswidrigkeiten brachten diesen Prozess auch vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der vergangenen August beschloss, den Fall Kavala bevorzugt zu behandeln.

Doch bisher erreichte europäische Kritik kaum etwas im Erdoganland. Zu viele europäische Länder, wie Ungarn oder Polen unterstützen Erdogan. Europas intensive Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei werden nicht zum Druckmittel gegen die Türkei, sondern umgekehrt gegen die EU. Manche Vertreter der EU und das Europarat übten zwar scharfe Kritik an Ankara, bezeichneten den Prozess als ein „Witz“ – ohne Erfolg. Stattdessen warf die Türkei die europäischen Korrespondenten aus dem Land, die darüber berichteten.

Cem Sey
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